Der Isenheimer Altar: Bilder gegen „Heiliges Feuer“
„Wüstenvater“ Antonius der Große prägt Matthias Grünewalds Meisterwerk

Für die meisten Betrachter ist der weltberühmte Isenheimer Altar, Anfang des 16. Jahrhunderts von Matthias Grünewald geschaffen, nicht mehr als eine reich illustrierte Bilderbibel. Kenner entschlüsseln die Darstellungen jetzt zunehmend als mittelalterliches Therapeutikum. Das heute in Colmars Museum Unterlinden stehende Kunstwerk war offenbar vor allem dazu da, Kranken Trost zu spenden und ihnen bei ihrer Gesundung beizustehen.
Fast drei Jahrhunderte stand der Altar in Isenheim (heute Issenheim), einem Dorf im Elsass zwischen Colmar und Mühlhausen. Nach der Französischen Revolution gelangte er nach Colmar. Lange Zeit schrieb man die eindrucksvollen Bilder vor allem Albrecht Dürer zu. Für die Zuordnung zu Grünewald sorgte ein Baseler Kunsthistoriker, der „Matthias Grünewald von Aschaffenburg“ als seinen Schöpfer ausmachte. Dass die Urheberschaft erst spät geklärt wurde, lag auch daran, dass Grünewald seine Arbeiten teils gar nicht signierte.
Beeindruckendes Werk
Angeregt von immer neuen Berichten und Diskussionen über Grünewalds Meisterwerk, reisten neben Kunstfreunden auch immer mehr Maler, Dichter, Bildhauer, Architekten, Regisseure und Schriftsteller nach Colmar. Grünewalds Gemälde beeindruckte Männer wie Max Beckmann, Paul Klee, August Macke, Emil Nolde, Henri Matisse, Le Corbusier, Lovis Corinth, Werner Herzog, Georg Baselitz, Alfred Kubin, Stefan Zweig, Otto Dix und Salvador Dalí. Für Thomas Mann waren sie gar das „Stärkste, was mir je vor Augen gekommen ist“.
Im Zentrum aller künstlerischen Betrachtungen standen gewöhnlich die Mittelbilder des Altars, allen voran die „Kreuzigung Christi“. Sie zeigt den geschundenen Leib Christi, übersät mit Wunden und Richtung Himmel krallenden Händen, durchbohrt von groben Nägeln: kein Bild der Erhabenheit also, wie es viele mittelalterliche Kreuzigungsdarstellungen bieten, sondern eines voller Grausen.
Zugleich ist das Altarbild aber auch ein Bild des Trostes, das den von den Antonitern in Isenheim gepflegten Kranken die Teilnahme Gottes an ihrem Leiden erlaubte. Eines, das jedem vor Augen führte, „dass er in ihr Leiden hinabgestiegen und dass ihr Leiden in seinem geborgen ist“. So formulierte es Papst Benedikt XVI.: „Die Bilder trösten, weil sie die Überwindung unserer Qualen im Mitleiden des menschgewordenen Gottes sichtbar machen.“

Das Bild mit dem Gekreuzigten, ist sich die neueste Forschung über den Isenheimer Altar ziemlich sicher, stellt wie der ganze Altar ein großes Zweckbild dar: eines, das den Kranken im Hospital Hoffnung geben und Trost spenden sollte. Zu seinen Patienten damals gehörten vor allem am sogenannten Antoniusfeuer Erkrankte. Dabei handelt es sich um eine weitgehend vergessene Seuche, die ein hochgiftiger Pilz namens Mutterkorn auslöste.
Nach trocken-kaltem Winter und feuchtwarmem Frühjahr bildete sich der Pilz gewöhnlich an den Roggenähren. „Heiliges Feuer“ nannten die Mediziner das von ihm verursachte Leiden, das die Betroffenen wie Feuer erlebten, das in ihrem Inneren brannte. Die Folge waren abfaulende Füße und Hände samt eitriger Geschwüre am ganzen Körper. Da Mediziner den Erreger erst im 17. Jahrhundert entdeckten, blieb den Betroffenen im Mittelalter meist nur der Glaube an ein Wunder. Das versprachen sie sich von der Fürbitte beim heiligen Antonius.
Der Ordenspatron der Antoniter, dessen Gedenktag der 17. Januar ist, war einer der ersten in der Wüste Ägyptens lebenden Einsiedler. Er gilt daher als erster der „Wüstenväter“ und als „Vater der Mönche“. Gleich auf mehreren Flügeln des Isenheimer Altars war er zu sehen. Als Seelentröster erschien er an den meisten Tagen – wenn alle anderen Altarflügel geschlossen waren – neben dem Bild der Kreuzigung. Dort zeigt er sich als älterer Mann mit langem Bart, hinter dem eine Teufelsgestalt eine Fensterscheibe einschlägt.

Dämonen in Tiergestalt
Auf einen der Altarflügel malte Grünewald die „Versuchung des Einsiedlers Antonius“. Das Schreckensszenarium prägten höchstwahrscheinlich eigene Erfahrungen des Malers im Isenheimer Spital, wo er die behandelten Pestkranken und Seuchenopfer selbst zu Gesicht bekam. So stellte er neben die von Tiergestalten verkörperten Dämonen auch einen von roten und eitrigen Wucherungen gezeichneten Halbnackten, der sehnsüchtig zum Himmel blickt.
Die Antoniter galten einst europaweit als Spezialisten für die Behandlung von Seuchen wie dem Mutterkornbrand. Häufig war die Krankheit mit rauschgiftartigen Erfahrungen verbunden, die in den LSD-artigen Substanzen des Getreidepilzes wurzelten. Vermutlich deshalb malte auch Grünewald das eine oder andere Altarbild anders als gewohnt. Manche Kunstkritiker haben die biblisch-religiösen Darstellungen sogar als „Fieberträume“ beschrieben.
Einer von ihnen war ein Freund Goethes: der Kunsthistoriker Johann Gottlob von Quandt. Beim Anblick des Engelskonzerts auf der zweiten Schauseite des Altars sah er ein „Lusthaus in verdorbenem gotischen Geschmack“, bevölkert von Engeln, „welche genauer betrachtet werden müssen, um sie nicht für buntschimmernde Insekten zu halten“.
„Die Geburt Christi“ hat Grünewald nicht etwa in einem Stall neben Ochs’ und Esel verortet, wie dies ein Großteil der Maler damals tat, sondern in einer mythisch-mystischen Szenerie, in der die Gottesmutter ihr Neugeborenes auf einer zerrissenen Windel in den Armen hält. Selbst Grünewalds Darstellung der Auferstehung Christi erinnert manchen Kritiker mehr an ein expressionistisches Stimmungsbild als an ein österliches Gemälde.
Bei Grünewald entschwebt Christus in verklärendem Sonnenglanz der Welt, um Tod und Schmerz auf der Erde zurückzulassen. Es ist ein Vorgriff auf seine Himmelfahrt, die hier schon Konturen gewinnt. „Das Weltall rollt heran“, beschrieb die deutsche Schriftstellerin und Philosophin Ricarda Huch (1864 bis 1947) in einem ihrer Gedichte die Szenerie, „den, der es schuf, die Liebe, zu empfangen.“

Mit narkotischer Wirkung
So betrachtet ist der Isenheimer Altar vor allem ein Stimmungsaufheller, der den Kranken im Spital, die zu Beginn ihrer Behandlung zum Altar der Klosterkirche geführt oder auf Bahren dorthin getragen wurden, Trost spenden und Mut machen sollte. Auch die Ärzte vertrauten der Kraft der Altarbilder, die Schmerzen lindern oder gar vergessen ließen. Hinzu kam, dass sie den Kranken schon einen Tag nach ihrer Ankunft einen „Heiliger Trunk“ genannten Mix aus Wein und Kräutern reichten – mit narkotischer Wirkung, die die vom vergifteten Getreide verursachte Verengung der Blutgefäße minderte.
Pilger duften den Isenheimer Altar in der Regel übrigens nur durch den Lettner der Kirche betrachten, ganz im Gegensatz zu den Mönchen, die vor ihm beteten und sich den wirkmächtigen Bildern direkt gegenüber sahen. Gottes Existenz hatte in Isenheim am Vorabend der Reformation eine eigene Anmutung. In ihr, schrieb der Schweizer Pfarrer und Buchautor Walter Nigg einmal, „sind die entfesselten Triebkräfte jener aufgewühlten Zeit viel besser wahrzunehmen als aus allen Geschichtswerken, die gelehrter Fleiß heute zu schreiben imstande ist.“
Günter Schenk