Der Fußball stiftet Frieden

Vor 100 Jahren ruhten zu Weihnachten für ein paar Tage die Kämpfe an der Westfront

 — © Foto: Schenk
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Ein britischer und ein deutscher Soldat verbrüdern sich am Weihnachtstag 1914.

Verbrüderungen unter Soldaten verschiedenster Nationen setzten am Anfang des Ersten Weltkriegs ein Zeichen der Menschlichkeit. Statt aufeinander zu schießen, trafen sich die Kriegsgegner 1914 zwischen ihren Schützengräben, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. Als „Christmas Truce“ fand ihr Weihnachtsfrieden in die Geschichts-
bücher. Vor den Toren einer kleinen belgischen Stadt spielten Deutsche und Briten sogar Fußball.

Zwei Männer, beide in langen Mänteln und Stiefeln, reichen sich die Hand. Der eine ist ein Brite, der andere ein Deutscher, den eine Pickelhaube als Vertreter des damaligen Kaiserreichs ausweist. Zwischen ihnen liegt ein Fußball. Die Szenerie zeigt ein Denkmal, das auf dem Marktplatz im belgischen Mesen steht, unweit der Grenze zu Frankreich. Es erinnert an ein legendäres Fußballspiel am ersten Weihnachtstag 1914.

Im Sommer zuvor waren deutsche Truppen ins neutrale Belgien einmarschiert. Von dort sollten sie den damaligen Erzfeind Frankreich in einem Blitzkrieg attackieren. Der Widerstand der Belgier war zwar schnell gebrochen, doch Briten und Franzosen eilten ihnen zu Hilfe. Es folgten blutige Schlachten mit Zehntausenden Toten. In endlosen Schützengräben verschanzten sich die Kriegsparteien auf engstem Raum – so wie in Mesen.

Gut 1000 Einwohner zählt das Städtchen heute. Ganz in seinem Westen, in der Nieuwkerkestraat, findet sich das Peace Village Hostel: eine Jugendherberge mit 43 Zimmern und Übernachtungsmöglichkeiten für 165 Personen. In einem der Herbergsräume prägt ein großes Wandgemälde das Bild. Es zeigt Soldaten bei einem Fußballspiel. Irgendwo in den Wiesen und Äckern hinter dem Hostel soll es an Weihnachten 1914 stattgefunden haben.

So jedenfalls erzählt es Sally, die das Hostel leitet. Vor dem Eingang ihrer Herberge erinnert ein weiteres Denkmal an das Spiel vor 100 Jahren. Ein Fußball liegt darauf. Die deutsche Inschrift verrät viel über das Zustandekommen des völkerverbindenden Kicks. „Stille Nacht, heilige Nacht“ steht auf dem Sockel des Denkmals. Und „Alles schläft, einsam wacht“.

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Eine Wandzeichnung im Peace Village in Mesen lässt das Fußballspiel zwischen Deutschen und Engländern lebendig werden.

Mit Weihnachtsliedern hielten sich die deutschen Soldaten damals in ihren Schützengräben bei Laune. In fast jedem ihrer Unterstände brannte ein Weihnachtsbäumchen, die großteils schon mit Kerzen bestückt an die Front geliefert wurden. Schon am Mittag des Heiligen Abends hatten viele der Soldaten die Briefe von zu Hause gelesen und Geschenke aus großen und kleinen Paketen ausgepackt.

Alkohol, Wurst, Tabak

Warme Socken und Unterhosen waren darunter, wasserdichte Schlafsäcke, Wollmützen, vor allem aber selbstgebackene Kuchen und Plätzchen, Alkohol, Wurst, Tabak und Zigaretten. Auch die Briten in den Schützengräben gegenüber packten freudig aus: Schildkrötensuppe, Würste, Früchtekuchen, Schokolade und den typisch britischen Plumpudding, ein klassisches Weihnachtsessen auf den Inseln.

Für Freude sorgten auch Frost und erste Sonnenstrahlen, hatte doch zuvor stundenlanger Dauerregen aus den Schlachtfeldern eine Schlammwüste gemacht, in der das Wasser teils hüfthoch in den Schützengräben stand. Überall lagen Tote, die sich angesichts der Scharfschützen nicht bergen ließen. Groß war deshalb die Sehnsucht nach einem Waffenstillstand. Den hatte Benedikt XV. Anfang Dezember angemahnt, als er die Kriegsparteien bat, die Waffen wenigstens in der Weihnachtsnacht schweigen zu lassen.

Der päpstliche Appell deckte sich mit dem Wunsch vieler Soldaten, die sich zum Unmut ihrer Vorgesetzten, teils aber auch mit deren stiller Duldung, kurzfristig mit dem Feind verbrüderten. Immer häufiger wurden deshalb in den Tagen vor Weihnachten informelle Waffenstillstände ausgehandelt. Angeblich vertrauensvoll sprach man sich ab, nach Schießbefehlen der Vorgesetzten ungenau zu zielen oder gar in die Luft zu schießen.

An Heiligabend krochen vor Mesen deutsche Soldaten mit weißen Fahnen und Weihnachtsbäumchen aus den Schützengräben, um ohne Waffen das Niemandsland zwischen den Stellungen zu betreten. Weihnachtslieder statt Kanonendonner begleiteten ihre Aktionen. Auch die Briten kamen schließlich singend hinzu, um mit den Deutschen Geschenke auszutauschen und sich über deren Souvenirs wie Uniformknöpfe oder Pickelhauben zu freuen.

„Dieselben Männer, die vor ein paar Stunden noch alles unternommen hatten, um sich gegenseitig zu töten, standen nun zusammen, lachten, schwatzten, tauschten“, beschrieb der Chronist Michael Jürgs in seinem Buch über den kleinen Frieden im großen Krieg die Geschehnisse. Ähnliche Szenen soll es auch an Frontabschnitten gegeben haben, wo sich Deutsche und Franzosen gegenüberstanden.

Adolf Hitler in Mesen

Auf allen Seiten aber gab es Männer, die die Waffenruhe nicht billigten. Einer von ihnen war ein Gefreiter, den ein anderer Weltkrieg ins Geschichtsbuch bringen sollte: Adolf Hitler, Melder im Königlich Bayrischen Reserve-Infanterie-­Regiment Nr. 16 in Mesen. Deutschen Soldaten schrieb er später ins Stammbuch: „So etwas sollte in Kriegszeiten nicht passieren, habt ihr kein deutsches Ehrgefühl?“ Auch am ersten Weihnachtstag war das Wetter auf Seiten der Soldaten. Wieder kamen Tausende zusammen, nachdem sich die Geschichte von der großen Verbrüderung wie ein Lauffeuer entlang der Front verbreitet hatte.

„Was ich vor ein paar Stunden noch für Wahnsinn  hielt, konnte ich jetzt mit eigenen Augen sehen“, schrieb ein Kämpfer aus Hitlers Regiment seinen Eltern im bayrischen Schwandorf. „Man sieht bald, dass der Mensch weiterlebt, auch wenn er nichts mehr kennt in dieser Zeit als Töten und Morden.“ Mancherorts nutzten die Kämpfer den Waffenstillstand, um ihre gefallenen Kameraden zu beerdigen. Viele Tote hatten bis dahin oft Wochen unentdeckt in Ackerrinnen und Gräben gelegen. Deutsche halfen den Briten bei der Bergung ihrer Leichen und umgekehrt, erzählt Sally aus dem Peace Village beim Rundgang über die Wiesen südlich des Städtchens. Friedenspark und Soldatenfriedhof erinnern dort heute an die Zeit von Weltkrieg und „Christmas Truce“.

Ein Spazierweg führt durch die grüne Landschaft, wo zu Weihnachten 1914 die Würde des Lebens über allen Hass gesiegt hatte. „So was wird man wohl nie wieder sehen“, beschrieb ein junger Schotte im Brief an einen Schulfreund die Szenerie am ersten Weihnachtstag, als deutsche und britische Soldaten friedlich zusammenstanden, rauchten und plauderten. Plötzlich bekamen sie Lust, gegeneinander Fußball zu spielen. Ihre Vorgesetzten sahen das gar nicht gern. Doch der Spaß am damals noch jungen Volkssport Fußball war größer als die Skepsis der Offiziere. Irgendwann war ein Ball aufgetrieben, der zum neuen Symbol des Weihnachtsfriedens wurde. Das Spiel vor den Toren Mesens, in Romanen verherrlicht und Filmen verklärt, ist längst Legende. Doch Briefe und Interviews mit Augenzeugen belegen die Begebenheit. 

So einzigartig aber, wie man glaubt, war der Kick in Mesen nicht. Auch andernorts entlang der Front bolzten an Weihnachten die Soldaten. Jeder, der wollte, durfte dabei mitmachen, zum Teil mehr als 100 Leute in Uniform und Stiefeln. Pickelhauben oder die Holzstücke der Tragen der Sanitäter markierten gewöhnlich die Tore. Als Ball diente zur Not auch eine leere Konservendose oder ein mit Draht umwickeltes Stück Stroh. Die Massenkicks wurden zum Symbol eines Abschnitts im Ersten Weltkrieg, den vor allem britische und amerikanische Zeitungen zum Jahreswechsel mit Berichten, Fotos und Zeichnungen bekannt machten. Auch einige deutsche Blätter wie die Münchner oder Frankfurter Zeitung berichteten vom Weihnachtsfrieden an der Westfront. Anders die französische Presse: Sie hüllte über die bezeugte Verbrüderung den Mantel des Schweigens. 

Der Krieg indes endete nicht mit dem weihnachtlichen Waffenstillstand. Im Gegenteil: Er sollte noch fast vier Jahre andauern. Um einen erneuten Weihnachtsfrieden zu verhindern, gaben die alliierten Kommandeure im Dezember 1915 den Befehl, entlang der Front alle Verbrüderungsversuche mit Artilleriefeuer unmöglich zu machen. Die deutschen Soldaten hatte man schon kurz vor Silvester 1914 gewarnt, künftig jede Annäherung an den Feind als Hochverrat zu werten und mit dem Tod zu bestrafen.

Günter Schenk

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Eines von mehreren Denkmälern, das in Mesen an den Weihnachtsfrieden erinnert.
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