Weltkirchebischof Bertram begegnet einer jungen, freudigen Kirche
Trotz Armut und Gewalt im Alltag: Nigeria schöpft Kraft zum Hoffen

Auf einer Weltkarte liegen zwischen Augsburg und Abuja, der Hauptstadt von Nigeria, nur ein paar Zentimeter: Luftlinie 4383 Kilometer, es geht fast gerade runter gen Süden. Die einwöchige Reise, die Bischof Bertram Meier als Vorsitzender der Weltkirchekommission der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) unternommen hat, war jedoch eine Reise in eine nicht nur geographisch weit entfernte Welt. In dem westafrikanischen Land bestimmen Armut und Gewalt das Leben der Menschen – es gibt aber immer wieder auch Funken der Hoffnung.
Es ist eine dieser vielen kleinen Szenen, die sich in der Solidaritätsreise des Weltkirchenbischofs der DBK nach und nach zu einem großen Bild zusammenfügen werden: Am fünften Tag nach seiner Ankunft in Nigeria besucht der Gast aus Augsburg das Dorf Barkin-Ladi im Hochland von Jos, knapp 300 Kilometer nördlich der Hauptstadt gelegen.
Hier, wo nur wenige Christen leben, kam es an Weihnachten 2023 zu einem Massaker von Islamisten. Mindestens 30 Menschen starben, insgesamt gab es in der Region rund 200 Opfer. Doch ausgerechnet hier findet man Zeichen der Versöhnung: Bischof Bertram lauscht Christen und Muslimen, die miteinander essen, einander zuhören, gemeinsam versuchen, ein friedliches Miteinander aufzubauen. Dafür, dass sie dem Gast aus Deutschland erzählen dürfen, sind sie dankbar.
Wortkarge Soldaten
Derlei Begegnungen gibt es viele in den Tagen, in denen der Bischof mehr als 1000 Kilometer mit dem Auto durch Nigeria unterwegs ist – auf Straßen, die zum Teil mehr an einen Steinbruch erinnern. Begleitet wird er von vier wortkargen, schwer bewaffneten Soldaten, die die kleine deutsche Delegation nicht eine Sekunde aus den Augen lassen.
Das Leben in Nigeria ist auch ohne islamistische Terrorakte gefährlich. Täglich kommt es zu Überfällen und Entführungen. Banditentum ist ein einträgliches Geschäft geworden – umso mehr, als eine Inflation von inzwischen 34 Prozent immer mehr Menschen ums tägliche Überleben kämpfen lässt. Rund die Hälfte der 220 Millionen Nigerianer lebt an der Armutsgrenze. Umgerechnet einen Dollar pro Tag zu verdienen, schon das ist für viele ein unerreichbarer Traum. Dann ein paar Naira – das ist die offizielle Landeswährung – zugesteckt zu bekommen, weil man den Gangstern einen Tipp gibt, wer da gerade durch ihre Gegend fährt, oder gleich selbst zur Waffe zu greifen: Vielleicht ist es nachvollziehbar, dass einige aus Perspektivlosigkeit der Verlockung nicht widerstehen können.

Von außen wird die Gewalt in Nigeria häufig als Konflikt zwischen Muslimen und Christen angesehen. Doch das alltägliche Banditentum hat damit wenig bis gar nichts zu tun, und auch die gewaltsamen Streitigkeiten im Norden zwischen muslimischen Hirten und christlichen Bauern haben weniger religiöse als klimatische Gründe.
Konflikte spitzen sich zu
Die Hirten mussten aufgrund der Erderwärmung ihre frühere Heimat in der Sahelzone verlassen, in der ihre Rinder keinen Grashalm mehr finden. Sie zogen südwärts in Richtung der Weiden der nigerianischen Bauern. „Es ist sehr einfach“, sagt Bischof Bertram, „alles auf einen Konflikt zwischen Christen und Muslimen zuzuspitzen. Das trifft aber nicht den Kern.“
Natürlich gibt es auch Boko Haram, die islamistische Terrorgruppe, die Nigeria zu einem Kalifatstaat machen will und gezielt Christen ermordet. Generell von Christenverfolgung in Nigeria sprechen will der Bischof aber nicht: „Man sollte bei diesen Begriffen äußerst vorsichtig sein und sich vor Scharfmacherei hüten“, erklärt er. Die eigentlichen Motivationen für die Konflikte lägen oft tiefer. „Es ist wie mit dem Dreißigjährigen Krieg in Europa, der an Religionsfragen entbrannte. Aber eigentlich ging es um ganz andere Hintergründe und Interessen.“
Den Gräueltaten von Boko Haram fallen tatsächlich nicht nur Christen, sondern auch Muslime zum Opfer: Wer sich versöhnlich zeigt, wird schnell selbst zur Zielscheibe. Im Norden Nigerias, wo die Muslime in der Mehrheit sind, geschieht allerdings eine Verdrängung der Christen. Sei es, dass Baugenehmigungen für Kirchen verzögert oder ganz abgelehnt werden, sei es, dass – wie im Erzbistum Jos – das Pfarrhaus der Kathedrale dreimal angezündet wurde. Jetzt lässt der Erzbischof in einem von Christen bewohnten Viertel eine neue Kathedrale bauen.
Ein Anblick, der guttut
Dennoch wächst die Zahl der Christen in Nigeria. Als Bischof Bertram an einem Abend das Priesterseminar in Jos besucht, sieht er sich 300 jungen Priesteramtskandidaten in weißen Talaren gegenüber. Ein Anblick, der einem deutschen Bischof guttut: „Da ist mir das Herz aufgegangen“, sagt er.
Schon zu Beginn der Reise erlebt die deutsche Delegation, wie sehr der Glaube die Menschen zusammenbringt. In der Dreifaltigkeitskirche von Maitama, einem Stadtteil der Hauptstadt Abuja, war es drei Tage vor Weihnachten zu einem großen Unglück gekommen.Die Pfarrgemeinde hatte angekündigt, kostenlos Nahrungsmittel zu verteilen, und schon fünf Stunden vor Beginn des Gottesdienstes hatten sich Tausende auf dem Gelände der Kirche gedrängt, in der Hoffnung, ein Säckchen Reis zu ergattern. Es kam zu einer Massenpanik mit zehn Toten.
Jetzt konzelebriert der Augsburger Bischof im Sonntagsgottesdienst mit Erzbischof Ignatius Kaigama und seinem Vorgänger, Kardinal John Onaiyekan. Mehr als 1500 Gläubige feiern die Messe mit. Für die Kollekte sind mehrere kesselgroße, mit goldglänzendem Stoff ausgeschlagene Gefäße in der Kirche verteilt. Sie füllen sich schnell.

Kühe statt Kirchensteuer
Die katholische Kirche in Nigeria lebt von diesen Spenden. Es gibt keine Kirchensteuer und auch keine Mittel vom Staat. Nach der Messe erzählt Erzbischof Kaigama, er habe vor Weihnachten zwei Kühe geschenkt bekommen. Sie hätten nicht nur ihn, sondern auch viele andere Menschen in Abuja eine Weile satt gemacht.
„Die Kirche in Nigeria ist reich – reich an Spiritualität und reich an jungen Menschen“, bilanziert Bischof Bertram nach der Feier. Jung zu sein ist allerdings nicht das Privileg nur der Christen in Nigeria – das Durchschnittsalter im ganzen Land beträgt gerade einmal 17 Jahre.
Durchschnittlich bekommt eine nigerianische Frau fünf Kinder, im muslimischen Norden sind es häufig zehn oder mehr. Im Jahr 2050 wird Nigeria in der Liste der bevölkerungsreichsten Staaten hinter Indien und China schon auf Platz drei liegen. Der Kampf um Ressourcen wird dadurch nicht nachlassen.
Christen und Muslime
Umso wichtiger ist es, dass das Land sich nicht zusätzlich durch kriegerische Auseinandersetzungen im Inneren schwächt. Und hier sieht Bischof Bertram auf seiner Reise viele eindrucksvolle Basis-Initiativen: In dem Ort Dutse Uku, geplagt von gewalttätiger Straßenkriminalität, berichten in einem mit Menschen überfüllten Ein-Zimmer-Haus Christen und Muslime, wie sie versuchen, gegenseitiges Verständnis herzustellen.
Auch Kwang gehört zu den Orten, die Hoffnung machen. Hier veranstaltet das „Dialogue, Reconciliation and Peace Center“ Workshops zur Friedenserziehung. Ebenso gehört die Moschee von Jos dazu. Eine Muslimin berichtet hier darüber, wie sie mit christlichen Frauen eine Friedensinitiative gegründet hat. Sie erhält viel Beifall, auch vom Imam der Moschee.
„Dreischritt“ zum Frieden
Bischof Bertram lobt solches Engagement: „Diese interreligiösen Graswurzelbewegungen gehören zum Stärksten, was ich während dieser Reise erlebt habe.“ Immer wieder habe er beim Gespräch mit diesen mutigen Menschen festgestellt, dass es eines „Dreischritts“ bedürfe, um wirklichen Frieden zu erreichen: „Zuhören, Dialog, Versöhnung.“
Auf diese Basis-Initiativen und ihre starken, von beiden Religionen ausgehenden Impulse für ein friedliches Miteinander setzen zu können, das ist die Hoffnung der Menschen in Nigeria. Und es ist die Hoffnung des Augsburger Bischofs, als er nach einer langen und intensiven Woche wieder in das Flugzeug nach Deutschland steigt.
Er reist zurück in ein Land ohne Hunger, ohne Straßenüberfälle, ohne systematisch durchgeführte Massaker. Aber auch ohne diese Freude am Glauben, die den Menschen in Nigeria – immer wieder – die Kraft zum Hoffen gibt.
Ulrich Bobinger