Russlands Türöffner gen Westen starb vor 300 Jahren

Zar Peter der Große modernisierte sein Land mit Hilfe deutscher Einwanderer

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Peter der Große am Ufer der Ostsee. Hier ist ab 1703 seine Stadt Sankt Petersburg entstanden. Der Maler Nikolai Dobrowolski stellte die Szene 1880 auf seinem Gemälde „Hier wird die Stadt gegründet “ dar.

Zar Peter der Große führte Russland in die Moderne. Als er vor genau 300 Jahren, am 8. Februar 1725, starb, hatte er das Land am Rande Europas in die Mitte des Kontinents geführt. Im Exklusiv-Interview analysiert der renommierte Historiker Hans-Heinrich Nolte, wie Peters Reformen, deutsche Einflüsse und westliche Inspirationen das Land veränderten und welche Spuren Peters Vision in der heutigen russischen Gesellschaft hinterließ.

Herr Professor, Zar Peter der Große hat Russland in vielerlei Hinsicht modernisiert. Welche Reformen hielt er bei der Modernisierung des Landes für entscheidend?

Peter I. ging davon aus, dass die „Wissenschaften“ in einem Kreislauf von Griechenland über Italien und Westeuropa nach Mitteleuropa vorgedrungen seien und dass es seine Aufgabe als Fürst sei, sie nach Russland zu bringen. Unter Wissenschaften verstand er nicht nur Theologie, sondern auch Naturkunde, Technik und rationale Lebensführung.

Gab es auch eine Reform, die durch seine Beobachtungen in deutschen Ländern inspiriert war?

Peter I. hat das Moskauer Patriarchat abgeschafft und die Russisch-Orthodoxe Kirche einem Konsistorium unterworfen, dem er erst auf Einspruch wenigstens einen griechischen Namen gab: Synod. Dafür waren die lutherischen Kirchen ein Vorbild, und Schweden war ja damals mit Territorien von Bremen bis Stettin ein lutherisches Glied des Reichs.

Durch welche deutschen Einflüsse und geistigen Strömungen sind Peters Reformen geprägt?

Sie tragen die Handschrift von Konfessionalisierung und Sozialdisziplin. Die den deutschen Absolutismus prägende frühe Aufklärung war gläubig und monarchisch.

Wie haben die Reisen nach Westeuropa die Sicht des Zaren auf Russland und Europa beeinflusst?

Die Reisen in den Westen muss man hoch einschätzen. Er begriff auf dem Hof in Koppenbrügge, aber auch der Werft in Holland, dass er Fachleute brauchte, aber auch selbst mit anpacken, selbst lernen musste.

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Hans-Heinrich Nolte lehrte osteuropäi­sche Geschichte an der Universität Hannover.

Inwieweit stand Peters Entscheidung, die Stadt Sankt Petersburg zu gründen, symbolisch für seine Idee eines westlich orientierten Russlands?

Der Zar verstand, dass Welthandel zu den Voraussetzungen der Moderne gehörte. Schweden hatte Russland aber durch die Annexion der Newa-Mündung vom Meer abgeschnitten. Nach der Rückeroberung, zu der noch der Erwerb von Estland und Nord-Lettland kamen, sollte die Verlegung der Hauptstadt an die Küste die Stellung des Imperiums am Meer sozusagen zementieren.

Wie waren die Beziehung zwischen ihm und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, insbesondere zu den deutschen Fürsten und Adeligen?

Peters Schwester, die vor ihm regierte, hatte durch das Bündnis mit dem Vatikan, Habsburg und Polen die Expansion Russlands gegen das Osmanische Imperium gesucht. Aber während Österreich mit der Eroberung Ungarns zur Weltmacht wurde, blieb das Schwarze Meer ein türkisches Binnen-Meer und bot keinen Zugang zur Welt. Peters Verhältnis zu Wien blieb also distanziert, aber dem „römischen“ Titel Kaiser setzte Peter ein Zeichen der Gleichberechtigung entgegen und erklärte Russland 1721 zum Imperium.

Das Bündnis mit Kursachsen/Polen ermöglichte dagegen den russischen Durchbruch zur Ostsee, und für viele protestantische Fürsten wurde eine Heirat mit den Romanows zur Chance für den Aufstieg – wenn der Ehepartner zur Orthodoxie konvertierte, was katholische Fürstenhäuser nicht akzeptierten. Mit Katharina II. wurde schließlich eine norddeutsche Prinzessin sogar Kaiserin von Russland.

Wirkten sich deutsche Einflüsse auch unmittelbar auf die Politik aus?

Peter I. setzte in Russland Absolutismus durch, indem er die Beratungsorgane der Moskauer Zeit nicht mehr einberief. In konkurrierender Imitation war sein konkretes Modell der schwedische Absolutismus (die „karolinische Einherrschaft“), aber es waren oft deutsche Theoretiker, welche man in Russland las.

Warum ließ Peter der Große Deutsche ins Russische Reich kommen, und welche Berufe oder Fähigkeiten brachten sie mit?

Peter lud alle Ausländer ein, nach Russland zu kommen, um das Militär nach westlichen Standards zu reorganisieren sowie die neue Flotte aufzubauen, aber auch Ärzte und Apotheker. Das waren meist Absolventen der vielen deutschen Universitäten und Handwerker, die nicht in die Kolonien gingen – zusätzlich zu den Kaufleuten, die seit Jahrhunderten Handel mit dem Osten trieben.

Was können Sie über die Rolle deutscher Berater und Militärs während Peters Herrschaft sagen?

Ich will Heinrich Ostermann herausgreifen, Sohn eines Pfarrers aus Bochum, der wegen eines studentischen Duells aus Deutschland fliehen musste: Er hat Russlands Außenpolitik beeinflusst, zum Beispiel beim Frieden mit Schweden 1721, wurde Reichsvizekanzler und heiratete in den russischen Hochadel ein.

Welche langfristigen Folgen hatte Peters westliche Orientierung für Russlands Außenpolitik gegenüber Europa?

Da Peter I. Russland zum Imperium machte, musste man eine große Armee und Flotten unterhalten. Das förderte die Rüstungsindustrie, kostete aber viel Mittel, die vor allem den Bauern abverlangt wurden. Schon unter Peters Vater waren sie der Leibeigenschaft nahegebracht worden. Zusätzlich mussten sie jetzt auf je 35 Mann einen Rekruten stellen – der auf Lebenszeit dienen musste. Im Westen wurde oft nicht verstanden, dass Russlands imperialer Anspruch beim Oströmischen Reich anknüpfte. Peter I. formulierte das als: „Jetzt sind wir an der Reihe!“ Dieser Wunsch nach Gleichberechtigung mit der lateinischen Welt ist byzantinisches Erbe und wirkt bis heute nach.

Die westliche Orientierung Russlands war sowohl Voraussetzung für den langen Vormarsch der europäischen Mächte gegen die Osmanen als auch für die Kooperation mit Preußen und Österreich bei den Teilungen Polens.

Ökonomisch ging der Aufstieg damit zusammen, dass Russland im zunehmenden innereuropäischen Handel zum Exporteur von Rohstoffen und Halbrohstoffen wurde und an der technischen Entwicklung meist erst in zweiter Reihe teilnahm.

 — © Foto: Heidas/CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)
Foto: Heidas/CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de)
Ein Reiterstandbild erinnert seit 1782 in Sankt Petersburg an den Gründer der Stadt. Der Volksmund spricht vom „ehernen Reiter“.

Wie wird die Erinnerung an Zar Peter den Großen in der russischen Erinnerungskultur bewahrt?

Peter der Große wird in Russland vor allem als nationaler Held gefeiert – unter ihm wurde Russland zur Großmacht. Auch war er ein moderner Mensch. Zum Beispiel verließ er die von seiner Mutter arrangierte Ehe und machte die geliebte Dienstmagd zur Mitkaiserin und Nachfolgerin. Trotzdem birgt die nationale Glorifizierung Probleme. Peter führte Russland zum Imperium – vielleicht gab es im 18. Jahrhundert keine Alternative, aber im 21. steht Russland vor den Trümmern dieses imperialen Wegs.

Hat der Zar noch einen Einfluss auf die russische Gesellschaft und Kultur, der bis in die Gegenwart spürbar ist?

Nach der Einbeziehung Russlands in das europäische System, gerade auch in der Geistesgeschichte, nahm es an westlichen Diskussionen und Entwicklungen teil. Die Leibeigenschaft der Bauern und die Unterdrückung der Nationen führten aber oft zu Aufständen, so dass Russland im 19. Jahrhundert zum „Gendarm Europas“ wurde. Diese Zwiespältigkeit trägt zum Reiz, aber auch zu den Schwierigkeiten der russischen Kultur noch heute bei.

Wie wird an ihn in Deutschland heute erinnert, und wie steht seine historische Bedeutung im Verhältnis zur gemeinsamen Geschichte beider Länder?

Wir erinnern uns an Peter den Großen vor allem wegen seiner Bereitschaft zu harter körperlicher Arbeit und seinem Lernwillen. Dass nur durch den Nordischen Krieg Schweden weithin aus Norddeutschland verdrängt wurde, wird oft vergessen. Wir sollten uns aber daran erinnern, dass Russland und Deutschland beide von der Vielfalt der Mächte profitieren.

Interview:

Andreas Raffeiner

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