Aus dem Pappkarton

Vinzentinerinnen bieten vernachlässigten Kindern einen Ort der Liebe

 — © Foto: La Crèche
Foto: La Crèche
Im Spiel finden die Kinder ihre Lebensfreude wieder.

Eine Kindheit im konfliktreichen Nahen Osten ist nicht leicht. Im Gazastreifen drohen den Kleinsten der Tod durch Bomben oder ein Leben zwischen Trümmern. Anderswo werden Kinder mitunter wie Müll behandelt – auch in Jesu Geburtsort Bethlehem. Die Kinder-Krippe „La Crèche“ ist dort ein Auffangort für solche Kinder. Unser langjähriger Heiligland-Korrespondent Karl-Heinz Fleckenstein hat sie vor seinem unerwarteten Tod besucht.

Hinter dem Hof ​​eines alten Steingebäudes in Bethlehem, eine Treppe hinauf, öffnet sich eine Tür zu einem Korridor voller kleiner Kinder – und voller Fröhlichkeit. Besucher werden ermutigt, ein Baby auf den Arm zu nehmen. Luftballons werden geworfen und zum Platzen gebracht. Gekicher hallt von den Wänden wider. In einer Gruppe wird Geburtstag gefeiert: mit Kuchen, Liedern, Klatschen und Spielen.

Ein Kinderparadies

Der kleine Junge, der fünf Jahre alt geworden ist, hat einen spitzen, bunten Hut auf dem Kopf. Die Kinder basteln viel und lernen erste Buchstaben und Zahlen. Aber vor allem sollen sie Kind sein: spielen, Spaß haben, sich gut entwickeln. Dieses Paradies für Kleine ist das Kinderheim der Heiligen Familie, im Volksmund als „Crèche“ bezeichnet. Das bedeutet soviel wie Krippe.

1884 errichteten vier französische Nonnen eine kleinen Krankensta­tion in Bethlehem und nahmen Kinder auf, die anonym im Krankenhaus zurückgelassen wurden. Diese Kleinen haben ihre Eltern meist nicht durch Tod verloren. Vielmehr sahen sich die Mütter gezwungen, die Kinder abzugeben. Die jungen Frauen sind kaum älter als 14 Jahre – und unverheiratet. Oft sind es Opfer von Vergewaltigungen, nicht selten von Familien­mitgliedern oder einem „Freund“ der Familie.

 — © Foto: La Crèche
Foto: La Crèche
Von der Geburt bis zum Alter von sechs Jahren betreuen die Vinzentinerinnen ungewollte palästinensische Kinder.

Von "Ehrenmord" bedroht

„Frauen halten oft ihre Schwangerschaften aus Angst vor der Familie geheim. Wenn der Bauch sichtbar wird, entbinden sie per Kaiserschnitt in der benachbarten Klinik der Malteser. Die unmittelbare Nachbarschaft und Verwandtschaft soll nichts von der ‚Schande‘ erfahren“, hört man in der „Crèche“. „Zurück bleiben ihre Kinder.“ Würden die Männer in der Familie von der Schwangerschaft erfahren, würden sie die Mädchen womöglich töten, um die vermeintliche „Familien­ehre“ wiederherzustellen.

„Wenn wir solche ungewollten Kinder aufnehmen, fragen wir nicht, welcher Religion, Rasse oder Hautfarbe sie angehören“, sagt Schwester Laudy. Sie gehört zu den Töchtern der Nächstenliebe des heiligen Vinzenz von Paul. Die Libanesin lebt seit mehr als 20 Jahren im Heiligen Land. „Babys findet man auf der Straße, manchmal sogar neben Müll“, erzählt sie. „So kommen diese Kinder zu uns.“

In der „Crèche“ erhalten sie Zuneigung und Bildung. Manche sind Vollwaisen. Andere haben Eltern, die sich nicht um sie kümmern können oder wollen. Viele sind unter­ernährt und müssen erst einmal aufgepäppelt werden. Zudem zeigen sie alle Spuren von Vernachlässigung. Sie sprechen zunächst kaum, sind oft verhaltensgestört. „Einige wirken übertrieben ängstlich, andere sehr aggressiv“, erklärt Schwester Laudy.

Manche der Kinder kommen mit tiefen emotionalen Narben in die Krippe. Manche sind körperlich oder geistig behindert – oft die Folge von Medikamentenmissbrauch oder Abtreibungsversuchen. Eines davon ist Cheba. Sie kann weder stehen noch sitzen. „Mit genug Liebe“, sagt Schwester Laudy, „kann ein Mensch alles überstehen. In der Liebe steckt eine  heilende Kraft.“

Liebevolles Zuhause

Die „Crèche“ ist das einzige Heim im Westjordanland, wo junge Frauen Zuflucht finden, um in Sicherheit zu gebären, und wo ungewollte, uneheliche Kinder als „Kinder der Schande“ ein liebevolles Zuhause finden. „Hier in Palästina leben wir in einer muslimisch geprägten Gesellschaft“, erläutert Schwester Laudy. Werte und Werturteile folgten der islamischen Tradition und dem islamischen Recht, der Scharia. Die Kinder aus dem Waisenhaus würden in der muslimischen Gesellschaft keinen Namen erhalten, erläutert die Vinzentinerin. „Sie sind buchstäblich ‚nichts‘ und dürfen nicht adoptiert werden.“ Aus einem „kleinen Nichts“ werde später ein „erwachsenes Nichts“, das keinen Pass erhalte. „Schließlich sind und bleiben die Kinder Muslime. Was wir ihnen aber geben können, ist unsere christliche Liebe.“ 

Schwester Denise ist die Leiterin des Heims. Sie nennt Fälle, in denen die Polizei ihr Babys brachte, die in Gassen gefunden wurden. „In einem Land, das durch Rassen- und Religionskonflikte gespalten ist, stehen unsere Türen allen offen, denn sie alle sind ein Geschenk Gottes“, betont die Vinzentinerin. „Wer kann ein solches Geschenk ablehnen?“ Der Zweck der Krippe besteht nicht einfach darin, ungewollte Kinder von der Straße aufzulesen, sondern sie mit der heilenden Kraft der Liebe zu berühren. Die Mitarbeiter verbringen viel Zeit damit, sich ganz den Kleinen zu widmen und mit ihnen zu spielen. Damit geben sie ihnen eine Sicherheit und Akzeptanz, die sie vielleicht nie zuvor erfahren haben.

„47 Kinder leben derzeit mit uns“, erzählt Schwester Sophie. Zusätzlich ist die Krippe für rund 50 Kinder von außerhalb Kindertagesstätte. Die Schlafräume sind überfüllt, ein Bett schmiegt sich an das nächste. Wenn mehr Betten hineinpassen würden, gäbe es wohl noch mehr Kinder, um sie zu füllen. Der Hauptkorridor muss als Spielzimmer herhalten. Es gibt einen Außenspielbereich für schönes Wetter, aber nur eine begrenzte Anzahl an Spielgeräten.

Makel der Schande

Sobald sie sechs Jahre alt sind, werden die Findelkinder in das SOS-Kinderdorf in Bethlehem weitergegeben. Dort können sie eine Schule besuchen und eine Berufsausbildung machen. Trotzdem bleiben ihre Perspektiven ungewiss. Der Makel der Schande ist nicht wegzuwischen. Nach dem 18. Lebensjahr sind sie auf sich allein gestellt. Niemals in ihrem Leben erhalten sie staatliche Hilfe, Unterstützung oder Anleitung.

„Ich liebe ‚La Crèche‘. Hier wird das Evangelium der Liebe umgesetzt“, sagt Schwester Sophie. „Ich hasse die Krippe gleichzeitig dafür, dass sie existieren muss. Ich bin verzweifelt über dieses kaputte System, das diese Kinder ignoriert. Aber dann fällt mir ein, dass auch in Europa dasselbe passiert. Wir haben unsere eigene Version von Wegwerfkindern, denen in Abtreibungs-Kliniken das Leben verweigert wird.“

Mit großer Zuneigung, Geduld und Hingabe erfüllen die Nonnen täglich eine fast unmögliche Mis­sion. Mit Sozialarbeitern, Lehrern und Freiwilligen füllen sie die Leere, die die Mütter dieser Kleinen hinterlassen haben. Zum Personal gehören Krankenschwestern und ein Arzt. Das Waisenhaus ist eine große Familie, in der man zusammen schläft, isst und lebt.

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Foto: La Crèche
Schwester Denise mit einem Säugling.

Einige Mitarbeiter sind selbst im Heim aufgewachsen

Einige der Mitarbeiter sind selbst in dem Heim aufgewachsen und kamen zurück, um zu helfen, da sie wussten, welche Härten die Kinder später im Leben erleiden müssen. Eine davon ist Ayysha. Sie hat ihre Eltern nie kennengelernt und ist auch nicht daran interessiert, sie zu finden. Anders erging es Fatme. Als unehelich geborenes Kind begann sie ein neues Leben, nachdem ihre Eltern geheiratet und ein gemeinsames Zuhause gegründet haben.

Eines der Kinder, die Schwester Denise mit ihren Helferinnen retten konnte, ist ein zwei Monate altes Mädchen. Sie nennen das Baby Maryam, also Maria, nach der Muttergottes, die im Koran als Mutter des Propheten Issa gepriesen wird. Maryams 19 Jahre alte Mutter hatte sich gegen die Zwangsehe mit einem doppelt so alten Mann gewehrt. Sie wurde außerehelich schwanger – und zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt. Ihr Baby wurde ihr weggenommen.

Bethlehem ist jener Ort, an dem nach christlicher Überzeugung der Retter der Welt geboren und Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist. Hier leben Ausgegrenzte, Verwundete, wie auch der Herr es war. Unweit auf dem Hirtenfeld wurde den Völkern vom Engel eine große Freude verkündet. Diese Freude bleibt, auch wenn sie heute in Bethlehem nicht sogleich erkennbar ist.

Karl-Heinz Fleckenstein

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