Im Dienst der Menschen
Zum 150. Geburtstag: Ein Besuch in Albert Schweitzers Heimat Kaysersberg im Elsass

Wer ans Elsass denkt, denkt an romantisches Fachwerk und Wein, Sauerkraut und Störche. Solche Klischees halten sich hartnäckig und auch nicht zu Unrecht. Nicht unbedingt kommt einem dagegen einer der großen Humanisten der Weltgeschichte in den Sinn, wenn von dem beliebten Reiseziel die Rede ist: Albert Schweitzer, Theologe und Philosoph, Mediziner und Musiker, ist ein Kind des Elsass.
1875 erblickte der spätere Friedensnobelpreisträger (1952) in Kaysersberg das Licht der Welt, wenige Kilometer von Colmar entfernt. In seinem Geburtsort ist der berühmte Sohn immer noch höchst präsent. Auf dem Spaziergang durch den Ort, der das Attribut pittoresk tatsächlich verdient, trifft man an vielen Stellen auf große Texttafeln.
„Woran glauben Sie?“, wird da – auch in deutscher Sprache – gefragt. Oder: „Was bedeutet lebendig sein?“ Der Leser wird angeregt, sich Gedanken zum Frieden zu machen und den Sinn von Grenzen zu hinterfragen. So soll er Schritt für Schritt und Zeile für Zeile dem Denken Albert Schweitzers nahekommen – und dabei auch die Sehenswürdigkeiten des Städtchens entdecken.

2013 ist der Lehrpfad auf Initiative der Stadt angelegt worden. Es ging darum, das Andenken an den großen Sohn aufrechtzuerhalten. Für die zwölf Stationen muss man etwa zwei Kilometer zurücklegen – vom Albert-Schweitzer-Park, in dem sich ein Denkmal für den Humanisten befindet, bis zum kleinen Friedhof neben der Stadtkirche Sainte-Croix (Heiligkreuz).
Gefallene aus dem Ersten Weltkrieg haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden, unabhängig von ihrer Religion: Seite an Seite ruhen Christen, Juden und Muslime. Auf der Texttafel liest man Schweitzers Worte: „Zum Frieden gehört Friedfertigkeit.“ Dem ist die mahnende Überschrift vorangestellt: „Der Friede wird niemals dauerhaft erlangt.“
„In unseren Köpfen“
Durch ein romanisches Portal betritt man das Gotteshaus. Im Innern befinden sich Kunstschätze wie ein Heiliges Grab, ein spitzbogiger Triumphbogen mit Kreuzigungsgruppe sowie ein Schnitzaltar aus dem frühen 16. Jahrhundert. Von der Kirche führt der Weg in die Weinberge und zu den Überresten der Burg Kaysersberg. Vom Bergfried kann man bis nach Deutschland schauen. „Die wahren Grenzen sind in unseren Köpfen zu suchen“, heißt es dazu auf der Tafel.
Zurück auf der von Fachwerkhäusern mit üppigem Blumenschmuck gesäumten Hauptstraße erreicht man die steinerne Brücke über den hier tosenden Flüsschen Weiss. Auf den Texttafeln am Ufer wird die Bedeutung des Wassers in Erinnerung gerufen. Ohne Wasser sei kein Leben möglich, daher ein schonender Umgang mit dem Rohstoff geboten.
Damit ist ein verbindendes Element der Texte des Albert-Schweitzer-Rundwegs genannt: der Appell an ein nachhaltiges, umweltbewusstes Verhalten, verbunden mit der Achtung vor dem Leben. Die Inhalte der Texttafeln belegen die Aktualität des Denkens des großen Elsässers Albert Schweitzer.
Als Höhepunkt des Spaziergangs wartet das Dokumentationszentrum auf die Schweitzer-Interessierten. Seit seiner Neugestaltung vor anderthalb Jahren informiert es anschaulich über die Biografie und die Anschauungen des Kaysersbergers. Ausgehend vom Friedensnobelpreis und der Begründung, warum Albert Schweitzer ihn erhalten hat, wird chronologisch von seiner Kindheit, seinen Studien und seinem Lebensprojekt, dem Krankenhaus von Lambaréné in Gabun, berichtet.
Gleich am Empfang warten andere Träger des Friedensnobelpreises: von Bertha von Suttner bis Lech Walesa. Ihre Porträts und Lebensläufe schmücken die Türen der Schließfächer für Mäntel und Taschen. Am Ende des Besuchs erinnern Tafeln an Menschen, die das Erbe Schweitzers weitergetragen haben, für Frieden kämpften oder sich für humanitäre Medizin engagierten: zum Beispiel an die Folksängerin und Bürgerrechtlerin Joan Baez oder an den Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire, der sich für die kulturelle Selbstbehauptung der Menschen Afrikas eingesetzt hat.
„Mit Worten verausgabt“
In den vielen Kapiteln dazwischen erfährt der Gast, dass Albert Schweitzer schon früh seine Liebe zur Musik entdeckte und dass er Doktortitel in drei Studiengängen erwarb: in Theologie, Philosophie und später auch in Medizin. Er sagte: „Ich wollte Arzt werden, damit ich ohne zu sprechen arbeiten kann. Jahrelang hatte ich mich mit Worten verausgabt.“

An der Entwicklung seines Krankenhauses in Lambaréné, mit dessen Aufbau er 1913 begonnen hatte, lässt sich dieses Engagement ablesen. Die Klinik ist im Schweitzer-Zentrum mit Objekten, Fotos und einem Dokumentationsfilm präsent. Beispielhaft sei erwähnt, dass der Menschenfreund das Nobelpreisgeld zum Aufbau eines Dorfs für Leprakranke in Lambaréné aufwendete.
Auch als Umweltschützer und Warner vor dem Atomkrieg lernen die Gäste des Zentrums Albert Schweitzer kennen. Er glaubte zudem daran, dass der Mensch nach und nach auf fleischliche Nahrung verzichten würde. Die Informationen gewinnen dadurch, dass sie vor zeitgeschichtliche Hintergründe gestellt werden, einen über das Persönliche hinausgehenden Bedeutungsrahmen. Ein Blick auf das aktuelle Nachrichtengeschehen verdeutlicht, dass Schweitzers Überlegungen und Forderungen nichts von ihrer Dringlichkeit eingebüßt haben – im Gegenteil.
Noch mehr Schweitzer gibt es auf der thematischen Wanderung, die von Kaysersberg ins nahe Gunsbach führt, wohin die Familie kurz nach der Geburt Alberts gezogen war. Das alte Pfarrhaus bewohnte er später mit Frau und Tochter, wenn er nicht in Gabun war. Auch dieses Schweitzer-Haus ist heute ein Museum, das zur Beschäftigung mit dem Leben seines 1965 in Lambaréné gestorbenen Namensgebers einlädt.
Ulrich Traub
Informationen
zu Albert Schweitzer finden Sie im Internet: www.ville-kaysersberg.fr und www.schweitzer.org.