Droht Bethlehem ein weiterer Exodus palästinensischer Christen?

Bethlehem im Schatten des Gaza-Kriegs

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Bei Bethlehems Sternenbrunnen sind ein paar wenige Touristen unterwegs.

Viele Christen im Heiligen Land leben seit Generationen vom Pilgergewerbe. Als Olivenholzschnitzer verkaufen sie Andenken an Reisende, als Herbergsväter bieten sie ihnen Unterkunft, als Fremdenführer Informationen. Seit der Eskalation in Nahost bleiben die Pilger aus – und mit ihnen die dringend benötigten Einnahmen. So droht dem Heiligen Land eine weitere Auswanderungswelle seiner „lebendigen Steine“, wie die christliche Minderheit sich selbst nennt.

Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert suchten Christen aus dem Heiligen Land wegen Hungersnöten oder des für sie verpflichtenden Militärdienstes im Osmanischen Reich ihr Glück in Übersee: vor allem in Chile, Guatemala oder Honduras. Im Zuge des ersten israelisch-arabischen Kriegs 1948/49 flohen zwei Drittel der palästinensischen Christenheit oder wurden von jüdischen Milizen vertrieben. Sie strandeten in Gaza, im Libanon oder Tausende Kilometer fern der Heimat.

Der Sechs-Tage-Krieg 1967 spülte weitere Christen außer Landes – manche nach Jordanien, andere nach Europa, Australien oder Nordamerika. Auch während der zweiten Intifada 2000 bis 2005 kehrten Christen ihrer Heimat den Rücken, getrieben von der Angst um die Zukunft ihrer Kinder. Zuletzt versetzte die Corona-Pandemie den „lebendigen Steinen des Heiligen Landes“ einen schweren Schlag.

Und nun tobt seit 13 Monaten ein Krieg im Heiligen Land, wie ihn dieses noch nie gesehen hat: Starben im ersten Kriegsmonat im Gazastreifen nach Schätzungen von Beobachtern im Schnitt 333 Palästinenser am Tag, so sind es über die gesamte Kriegsdauer von nun fast 400 Tagen immer noch 110 pro Tag. Unter ihnen sind auch palästinensische Christen, die in Kirchen Gazas, deren Innenhöfen oder angrenzenden Gebäuden Schutz gesucht haben.

 

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Sogar die Geburts­basilika ist verwaist.

Auch im Westjordanland sind Tote zu beklagen: mehr als 700. Sie starben bei Razzien des israelischen Militärs oder durch die Hand militanter Siedler, die nicht selten nach Belieben schalten und walten können. Sie errichten neue Außenposten, sperren Straßen für Palästinenser oder behindern diese beim Ernten ihrer Oliven. Weitgehende Unterstützung genießen die Siedler von der Regierung, die in den zurückliegenden Wochen wiederholt palästinensisches Land zu „Staatsland“ erklärt hat.

Genug Probleme

Nun soll neben Bethlehems mehrheitlich christlichem Nachbar­ort Beit Jala die jüdische Siedlung „Nahal Heletz“ entstehen. Und als seien dies nicht schon genug Pro­bleme, lässt Israel die 130 000 palästinensischen Arbeiter, die bis zum Terrorangriff der Hamas im Oktober 2023 auf israelischen Baustellen, in Fabriken, Werkstätten oder der Gastronomie arbeiteten, nicht mehr aus dem Westjordanland. Inder haben teilweise ihre Arbeiten übernommen.

„Das Leben ist die Hölle“, sagte Klempner Mahmoud Falah Sleiman dem israelischen Journalisten Ga­briel Levin im Sommer. Auch sein Passierschein nach Israel wurde für ungültig erklärt. Als Levin ihn traf, versuchte er gerade, vor der Geburtsbasilika Postkarten zu verkaufen – vergeblich. Zwei seiner acht Kinder musste er aus der Schule nehmen – für die Schulgebühren reicht der Lohn nicht mehr. Ein Taxifahrer erzählte Levin, mit den Tageseinnahmen könne er gerade einmal eine Packung Zigaretten kaufen.

Ein christlicher Olivenholzschnitzer aus Bethlehem, der anonym bleiben will, erklärte unserer Zeitung, die getöteten Landsleute in Gaza hätten es hinter sich, in Bethlehem jedoch sterbe man in Raten langsam vor sich hin. Dank Kontakten nach Europa hat er wenigstens einen Auftrag über 1700 Olivenholzherzen erhalten. Das gibt ihm, seinem Bruder und den vier Angestellten zumindest für einige Tage Arbeit.

In Ermangelung an Rücklagen musste er allerdings erstmals vom Auftraggeber einen Vorschuss erbitten. Normalerweise zahlen seine Kunden erst nach Erhalt der Ware.Dutzende solcher Betriebe gibt es im Raum Bethlehem. Meist sind es kleine Familienbetriebe, die Christbaumschmuck, Krippchen, Handschmeichlerherzen oder Kreuze herstellen. Manche verkaufen auch über das Internet oder haben einen Vertriebspartner in Deutschland.

Ohne Perspektive

Im Juli sprach die scheidende Chef­ärztin des Caritas Baby Hospitals, Hiyam Marzouqa, vom „fast völlig eingebrochenen Tourismus“. Armut und Hoffnungslosigkeit hätten sich „kollektiv verbreitet“, „von der politischen Perspektivlosigkeit ganz zu schweigen“. Auch Journalist Levin traf im August lediglich zwei Touristen in Bethlehem an. „Die Hauptstadt des Tourismus im Westjordanland ist eine Geisterstadt geworden“, betitelte er seine Reportage über die Stadt, die normalerweise in der Hauptreisezeit täglich mindestens 100 Gruppen plus Individualtouristen begrüßt.

Die vielen christlichen Einrichtungen der Geburtsstadt Jesu und der beiden Nachbarorte Beit Jala und Beit Sahour wissen nicht, wie sie den weiteren Betrieb aufrechterhalten und beispielsweise Gehälter zahlen sollen. Dutzende kirchliche Kindergärten und Schulen sowie die vielen von Christen geleiteten Nichtregierungsorganisationen sind genauso betroffen wie die katholische Universität Bethlehem und die palästinaweit einzige Universität für Medien, Tourismus und Kunsthandwerk Dar al-Kalima. Mitte September wurde sie bei einer israe­lischen Razzia beschossen.

Miguel De La Torre, Professor für Sozialethik aus den USA, hat dort unterrichtet. Für ihn ist die Hochschule „ein leuchtender Stern in Bethlehem“, da sie es wage, sich für die freie Meinungsäußerung einzusetzen. Angesichts des Angriffs empfand er „Schock und Abscheu“. Die Soldaten, betont er, hätten „keine Schwerter, sondern nur Stifte“ gefunden, „keine Gewehre, nur Pinsel; keine Bomben, nur Kameras; keine Militärstiefel, sondern Ballettschuhe“.

Hungernde Kinder

Schon erreichen Bittbriefe aus Bethlehem ehemalige Besucher, Freunde und Förderer in aller Welt. So hoffen etwa die Don-Bosco-Schwestern für ihre Laura-
Vicuña-Schule im Cremisan-Tal bei Beit Jala auf Spenden aus Europa oder Amerika, um Lebensmittelkörbe an hungernde palästinensische Kinder und ihre Familien verteilen zu können.

Albrecht Schröter, früherer Oberbürgermeister von Jena und aktuell Vorsitzender des Städtepartnerschaftsvereins Köln-Bethlehem, sagt im Gespräch mit unserer Zeitung, die Einwohner Bethlehems „leiden unter den Auswirkungen des Gaza-Kriegs mehr, als es den meisten Menschen in unserem Land  bewusst ist“. Immer wieder werde ihm „die dramatisch zunehmende Armut“ der palästinensischen Christen beschrieben.

Von seinen Freunden und Partnern hört Schröter zuletzt immer häufiger die Sorge, Israels rechtsnationale Regierung versuche, im „Windschatten“ des Gaza-Kriegs ihr Ziel einer vollständigen Annexion des Westjordanlands voranzutreiben – auch mit Gewalt. In der Geburtsstadt Jesu, betont Schröter, kenne er niemanden, „der das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und die Geiselnahme begrüßt hätte“.

Seit der Eskalation in Nahost, hört man von Beobachtern, seien schon mindestens drei Dutzend christliche Familien aus Bethlehem ausgewandert. Anderen werde dies von Verwandten in Übersee fast täglich nahegelegt. Wie tief wird der Anteil der Christen in Jesu Geburtsstadt noch sinken? 1947 lag er bei 80 Prozent. Aktuell beträgt er nicht mal mehr ein Fünftel.

Johannes Zang

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