Vor 30 Jahren: Busunglück von Trudering

"Es zählte jede Sekunde"

 — © Foto: Berufsfeuerwehr München
Foto: Berufsfeuerwehr München
Mit dem Heck voraus versank der Münchner Linienbus in der Grube, die sich durch die Beschaffenheit des Untergrunds gebildet hatte.

Das Busunglück von Trudering bewegte vor 30 Jahren das ganze Land: Ein Linien­bus stürzte am 20. September 1994 in dem Münchner Stadtteil in einen Hohlraum, der sich bei Bauarbeiten an einer U-Bahn-Linie durch Wassereinbruch unter der Fahrbahn gebildet hatte. Drei Menschen starben. Rainer Sonntag war damals Einsatzleiter der Feuerwehr. Im Interview spricht er über die emotionalen Herausforderungen und die Lehren, die er aus dem Unglück gezogen hat.

Herr Sonntag, was waren Ihre ersten Gedanken und Gefühle, als Sie von dem Busunglück erfuhren?
Die damalige Alarmierung lautete auf das Stichwort „Bus in Baugrube gestürzt“. So eine Alarmierung kam mir bekannt vor. Bisher war dann meist ein Pkw mit einem Rad oder einer Achse in eine Baugrube gerutscht, meist ohne verletzte Personen. In diesem Fall sollte es also um einen Bus gehen. Die Einsatzstelle lag am Stadtrand. Ausgerückt bin ich von der Hauptwache im Zentrum. Deshalb brauchte ich etwa 15 Minuten.

Was sahen Sie, als Sie vor Ort eintrafen?
Als ich an der Einsatzstelle ankam, habe ich schon aus Entfernung nur den oberen Teil des Busses aus der Erde ragen sehen – also eine völlig andere Situation als bei bisherigen Einsätzen mit Pkws. Der Bus war nicht in eine Baugrube gerutscht, sondern fast im Erdboden verschwunden. An einer Stelle, wo vor wenigen Minuten noch eine unberührte Straße und keine Baugrube war.
Als Bergbauingenieur konnte ich den Sachverhalt schnell einordnen: rolliger Boden (Kies), hoher Grundwasserspiegel und die benachbarte U-Bahn-Baustelle mit Tunnelvortrieb. Der ist eingebrochen, und der auf der Oberfläche stehende Bus ist in einen einstürzenden Tunnel gefallen. Daher das mit Wasser gefüllte trichterartige Loch, aus dem Bus ragte – eine absolut ungünstige Situation hinsichtlich Stabilität und nachbrechender Randbereiche der Fahrbahndecke.
Die zuvor eintreffenden Einsatzkräfte hatten bereits mit der Rettung der Personen aus dem Bus begonnen, mit Einsatz der Drehleiter als sichere Brücke und Stabilisierung des Busses gegen Wegrutschen. Für die Einsatzkräfte bestand erhebliche Gefahr. Der Bus steckte in einem absolut instabilen, mit Wasser gefüllten Trichter.

Rainer Sonntag war beim Busunglück von Trudering im September 1994 Einsatzleiter der Feuerwehr.

Wie schafften Sie es, einen klaren Kopf zu bewahren und die richtigen Entscheidungen zu treffen?
Als Einsatzleiter muss man auch etwas Glück haben, und die Dinge können besser oder schlechter laufen. Grundsätzlich sind die Einsatzkräfte sehr gut ausgebildet und bilden mit der Einsatzleitung ein Team. Die Maßnahmen waren bis zu meinem Eintreffen einsatztaktisch richtig. Es zählte in diesem Fall jede Sekunde, bedingt durch die Instabilität der Baugrube.
Als Einsatzleiter laufen die zu treffenden Entscheidungen analog eines Regelkreises ab, mit dem Ziel: Ab Eintreffen der Feuerwehr soll sich der konkrete Gefährdungszustand nur noch verbessern, gefährdete Personen sollen schnell und schonend gerettet werden. Das mag technokratisch klingen, ist es vielleicht auch. Emotionen kommen später dran.

Wie haben Sie die Belastungen des Einsatzes bewältigt?
Wenn wir gerufen werden, ist das Ereignis im Regelfall passiert. Da­ran können wir nichts mehr ändern. Wir können aber ab Eintreffen dafür sorgen, dass die Lage stabilisiert wird und Personen gerettet werden. Das gibt ein gutes Gefühl und bestärkt den Glauben, dass der Feuerwehrberuf mit dem Grundsatz „Retten-Löschen-Schützen-Bergen“ intrinsisch stark motiviert und auch Kraft gibt. Das beruhigt – neben Gesprächen mit Kollegen – die emotionale Belastung. Gegen Stress helfen dienstfreie Tage, positive Gedanken und Sport.

Welche Rolle spielten Empathie und Menschlichkeit im Umgang mit den Opfern und deren Angehörigen?
Jede Person in einer bedrohlichen Lage ist uns wichtig und erfordert die volle Konzentration. Sobald die Person gerettet ist, kümmert sich der Rettungsdienst um alles Weitere. Das ist eine erhebliche Unterstützung und gute Aufgabenverteilung. Ist während der Rettung eine Person ansprechbar, erfolgt die Betreuung und ein positiver Zuspruch ab der ersten Sekunde. Ist ein Todesfall zu beklagen, kümmert sich besonders ausgebildetes Personal der Krisenintervention um die Angehörigen und um die Opfer.

Fanden Sie Trost oder Unterstützung in Ihrem Glauben oder in der Gemeinschaft?
Ich habe eine christliche Grundeinstellung zum Leben. Alles, was wir haben, kommt nicht aus uns selbst. Warum dieser Mensch zum Opfer wird und jener nicht, können wir nicht wirklich beantworten. Es gab bei mir viele Einsatztage, an denen in der Großstadt ein Mensch zu Tode gekommen ist oder – besonders traurig – seinem Leben ein Ende gesetzt hat und wir zum Einsatz gerufen wurden.
Auf der Rückfahrt vom Einsatz­ort war dann oft das Gespräch im Einsatzleitwagen, warum vorher keine Hilfe den Menschen erreicht hat. Die Gründe können sehr vielfältig sein. Man muss lernen, die emotio­nale Belastung aus dem Einsatzgeschehen auszuhalten.

Hat das Ereignis Ihre persönlichen Werte und Überzeugungen beeinflusst oder verändert?
Nicht dieses Einzelereignis Bus­unglück. Aber insgesamt reflektiert man schon, warum Menschen Schicksale erleben müssen – als Opfer oder als Angehöriger. Dann wird man bescheiden und dankbar.

Welche Lehren und Erkenntnisse aus diesem Einsatz geben Sie heute an jüngere Kollegen weiter?
Dieser Einsatz ist so speziell gewesen, dass eine Extrapolation auf andere Ereignisse schwierig ist. Generell gilt aber wie bei allen komplexen Einsätzen: Vor die Lage kommen, sehen und abschätzen, was in einer …, fünf …, zehn Minuten passieren könnte. Bereit sein. Vorsorge schaffen. Plan-B-Szenarien berücksichtigen, wenn es doch anders kommt, als man zuvor gedacht hat.

Interview: Andreas Raffeiner

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