Stauffenberg-Enkelin im Interview:

Das moralische Erbe des Großvaters bewahren

 — © Bundesarchiv/Bild 146-1984-079-02/CC BY-SA 3.0 DE (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)
Bundesarchiv/Bild 146-1984-079-02/CC BY-SA 3.0 DE (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)
Claus Schenk Graf von Stauffenberg (links) im „Führerhauptquartier“. Die letzte Aufnahme des Hitler-Attentäters entstand am 15. Juli 1944.

Sophie von Bechtolsheim ist Enkelin von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, dem führenden Kopf des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Im Interview spricht sie über das Erbe ihres Großvaters, die moralischen und ethischen Dilemmata des Widerstands und die zeitlose Bedeutung von Zivilcourage.

Frau von Bechtolsheim, wie hat das Erbe Ihres Großvaters Claus Graf Schenk von Stauffenberg Ihre Entscheidung beeinflusst, Historikerin zu werden?

Gar nicht. Für mich war klar, eine Geisteswissenschaft zu studieren. Ursprünglich wollte ich Journalistin werden. Geschichte hat mich dann letzten Endes am meisten interessiert. Die Zeit des Nationalsozialismus hat mich schon als Kind beschäftigt. Aber weniger der 20. Juli als die Frage, wie es zu Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Mitbürger und aller anderen rassisch Verfolgten in Deutschland kommen konnte.

Welche Werte und Überzeugungen hat Ihnen Ihr Großvater vermittelt, auch wenn Sie ihn nie kennenlernen durften?

Die Werte und Überzeugungen haben mir in erster Linie meine Eltern vermittelt und dies weniger durch permanente intellektuelle Auseinandersetzung, sondern durch ihr Vorbild. In gewisser Weise auch meine beiden Großmütter, wie auch andere nahe Familienangehörige. Ich bin an dem Punkt nicht tiefenpsychologisch unterwegs, um zu mutmaßen, was da jetzt von meinem Großvater kommt.

Können Sie bestimmte Eigenschaften oder Charakterzüge von ihm, die Ihnen besonders imponieren, benennen?

Besonders gefällt mir, dass mein Großvater viel Humor hatte und sein Lachen sprichwörtlich war. Beeindruckend ist, dass er offenbar über eine Vielzahl Talente und eine große Ausstrahlung verfügte. Besonders imponiert hat mir die Erzählung Ewald von Kleists, der mit ihm im Bendlerblock war und diesen hochdramatischen Tag an seiner Seite erlebt hatte.

Er berichtete von der außergewöhnlichen Ruhe, Konzentriertheit und dem Organisationstalent – auch und gerade in dieser existentiellen Situation. Dabei hat er noch versucht, meine Großmutter telefonisch zu erreichen. Also: Er hatte alles auf dem Schirm, und immer mit Anstand und Würde.

Gibt es Dokumente Ihres Groß­vaters, die seine Gedanken vor dem Attentat widerspiegeln?

Nein. Sie müssen sich vorstellen, unter welchem immensen Zeitdruck diese Menschen standen. Außerdem war jedes geschriebene Wort gefährlich. Sein Chauffeur berichtete, dass er sich am Abend des 19. Juli auf der Fahrt in die Wohnung noch an einer menschenleeren Kirche absetzen ließ, um dort zu beten.

Enkelin Sophie von Bechtolsheim wehrt sich dagegen, ihren Opa als „Helden“ zu sehen.

Was denken Sie über die Bedeutung des 20. Juli 1944 in der deutschen Geschichte?

Für mich gibt es zwei Ebenen. Zum einen die historische Ebene: Am 20. Juli 1944 hätte das Rad der Geschichte eine komplett andere Wendung nehmen können. Von der wir natürlich nicht wissen, welche. Hätten die Deutschen den Staatsstreich akzeptiert? Hätte es eine neue Dolchstoßlegende gegeben? Hätte es einen Bürgerkrieg gegeben? Wären die Pläne gelungen, das Morden zu beenden? Und vor allem – das große Ziel der Verschwörer: Wäre die „Wiederherstellung der Majestät des Rechts“ gelungen, also einen Rechtsstaat zu etablieren?

Dann gibt es die zeitlose, immer noch aktuelle Bedeutung des 20. Juli: Der Mensch muss seine Freiheit nutzen, sein Gewissen befragen, um seiner Verantwortung gerecht zu werden, die er seinem Nächsten – ob in Familie, in der Gemeinde, in der Kirche oder in der Gesellschaft – schuldet. Erkenntnis reicht nicht, sondern konkretes Handeln ist nötig.

Eine hypothetische Frage: Wie denken Sie, wäre die Geschichte verlaufen, wenn das Attentat erfolgreich gewesen wäre?

Sie sagen selbst, dass es eine hypothetische Frage ist, auf die es nur Hypothesen im Konjunktiv oder neue Fragen gibt. Eine Frage finde ich mindestens genauso spannend: Was wäre aus Deutschland, was wäre aus uns geworden, hätte es den 20. Juli 1944 nicht gegeben? Wie hätte man den Opfern des NS-Regimes und deren Angehörigen begegnen können, hätte es nicht zumindest den Versuch gegeben, dem ganzen Terror ein Ende zu bereiten?

Wie wichtig ist es Ihnen, das Andenken der Beteiligten des Attentats auf Hitler lebendig zu halten?

Meiner Ansicht nach ist dies ein Thema, das eigentlich jeden etwas angehen sollte. Wie verhalten wir uns? Wie werden wir unserem Anspruch an die eigene Integrität gerecht?

Die Zeit des Nationalsozia­lismus wirft ein gleißendes Licht darauf, wie sich Menschen unter bestimmten Bedingungen und gruppendynamischen Konstellationen verhalten können: im schlimmsten Fall und unter mörderischen Auswüchsen. Aber auch, wenn man die Männer und Frauen des Widerstands betrachtet, wie sie über sich hinauswachsen können.

Wie denken Sie darüber, dass Ihr Großvater und andere Widerstandskämpfer oft als Helden betrachtet werden?

Ich habe ein Problem mit Heldenverehrung, weil sie verhindert, dass man den Versuch unternimmt, auf Augenhöhe zu kommen. Helden sind unantastbar und unverletzlich. Beides stimmt ja nicht! Außerdem führt Heldenverehrung zum reflex­artigen Impuls, voller Wollust diese Menschen vom Sockel in den staubigen Boden zu stoßen. Beides wird diesen Menschen nicht gerecht und führt zu Geschichtsklitterung.

Welche moralischen und ethischen Dilemmata sehen Sie im Zusammenhang mit dem Attentat und dem Widerstand gegen die Nazis?

Es wird immer auf den sogenannten Führereid verwiesen. Für manche mag der Eid, den jeder Soldat ablegen musste, ein Hindernis gewesen sein, in den Widerstand zu gehen. Für manche vielleicht auch ein Vorwand. Die Fragen, mit denen sich die Verschwörer aber tatsächlich herumschlugen, war die Frage nach der Legitimation des Tyrannenmordes – eine Frage, die schon die antiken Philosophen und Thomas von Aquin beschäftigt hatte.

Die Frage, ob und unter welchen Umständen die Tötung des Tyrannen gerechtfertigt ist, auch im Bewusstsein, dass bei einem solchen Anschlag wohl andere Menschen getötet werden, ist ein großes Dilemma. Auch haben die Verschwörer gewusst, dass sie nicht nur sich selbst in Gefahr bringen, sondern womöglich auch die ­Familien. Gleichzeitig zieht ein Umsturzversuch während eines tobenden Kriegs Risiken und damit mehrere Dilemmata nach sich, die wir uns nicht vorstellen können.

Können Sie dem Bertolt-Brecht-Zitat „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ etwas abgewinnen?

Wo Unrecht zu Recht wird, befindet sich der integer Handelnde, der nach moralisch, ethischen Grundsätzen Agierende fast automatisch im Widerstand – ob er das möchte oder nicht. Jedenfalls lehrt uns dies der Blick auf Diktaturen, die immer auf Ideologien gründen. Ideologien machen Menschen zu Objekten, die nur funktionieren und keine eigene Identität haben dürfen.

Was möchten Sie über die Wichtigkeit von Zivilcourage und Widerstand gegen Unterdrückung mitteilen?

Ihre Frage ist die Antwort: Zivilcourage ist wichtig. Sie ist aber nicht nur in Systemen der Unterdrückung wichtig. Wie oft ducken wir uns weg, weil wir zu bequem sind, weil wir Nachteile befürchten oder weil es unangenehm ist, für die eigene Überzeugung einzutreten? Gruppendynamische Effekte haben mehr Auswirkung auf unser Handeln, als wir uns gern eingestehen wollen.

Sie haben ein Buch über Ihren Großvater geschrieben. Welche Kernbotschaft wollen Sie damit vermitteln?

Zum einen war der Versuch, Hitler zu töten, kein nihilistischer Akt, um ein gewaltsames Zeichen in die Welt zu senden, wie dies bei Terror­anschlägen der Fall ist. Er stellte die Voraussetzung dafür dar, das NS-System zu stürzen und einen Rechtsstaat zu errichten. Gleichzeitig ist das Vermächtnis der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 an uns, unsere Freiheit zu nutzen, Gewissensmut in herausfordernden Situationen zu wagen und uns gleichzeitig damit auseinanderzusetzen, dass man aus Irrtümern lernen, Erkenntnisprozesse zulassen und konkretes Handeln ableiten kann. Dass dies nicht nur nötig, sondern sogar möglich ist.

Welche Lehren sollten junge Menschen aus der Tat Ihres Großvaters ziehen?

Zuallererst würde ich mir wünschen, dass junge Menschen – im Übrigen auch ältere – sich intensiv mit der Zeit des Nationalsozialismus und dem Widerstand auseinandersetzen. Fundierte Kenntnis ist eine Voraussetzung dafür, Taten historischer Persönlichkeiten einzuordnen. Also: Vorsicht vor Schablonen-Denken, Vorsicht vor vorschnellen Urteilen. Die schnelle Internet-Recherche reicht da nicht.

Interview: Andreas Raffeiner

 — © Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Stauffenberg auf einer Aufnahme um 1940.
expand_less