Zum 100. Todestag

Germanist: Franz Kafka ist noch immer aktuell

Franz Kafka auf seinem vielleicht letzten Foto. Aufgenommen wurde es 1923, ein Jahr vor den Tod des Schriftstellers mit gerade einmal 40 Jahren. (Foto: gem)
Franz Kafka auf seinem vielleicht letzten Foto. Aufgenommen wurde es 1923, ein Jahr vor den Tod des Schriftstellers mit gerade einmal 40 Jahren. (Foto: gem)

Franz Kafka ist bekannt für das Groteske und das Absurde. Im Exklusiv-Interview analysiert Philosoph und Germanist Hannes Mittermaier, Doktorand und Lehrbeauftragter an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Werk und Wirkung des früh verstorbenen Schriftstellers. Er betont: Kafka zu lesen, lohnt sich bis heute.

Herr Mittermaier, welche Rolle spielte für Kafka der jüdische Glaube und wie beeinflusste er seine Werke?

Zuerst möchte ich sagen, dass das Judentum in Kafkas Werk keine Bedeutung hat; es kommt terminologisch explizit nicht vor. Das mag auf Verwunderung stoßen, wenn man sich die Biografie Kafkas ansieht. Er entstammt einer bürgerlich-jüdischen Familie, die von reli­giösen Riten geprägt ist. Die Familie legte größten Wert darauf, jüdische Feier­tage einzuhalten. Als Erwachsener scheint er diesem Brauch später noch gefolgt sein. In der posthumen Kafka-Forschung, vorgelegt von Max Brod, wird überliefert, dass Kafka ein überzeugter Zionist war.

Kafka wurde oft als einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Ist sein Werk heute noch relevant?

Diese Relevanz eines Schriftstellers darf sich nie in der Frage nach der Relevanz posthumer oder jüngerer Generationen stellen. Es gibt Beispiele dafür, dass Autoren erst nach ihrem Tod zu ihrer Bedeutung gekommen sind. Ich denke hier an Nietzsche oder Hölderlin. Die Frage der Relevanz Kafkas geht mit der Frage einher, ob unsere Kultur heute noch etwas mit Kafka anfangen kann. Dem Autor ist es egal, was seine Texte uns heute sagen. Er wollte sein Werk zeitweise vernichten. Daraus kann man sein Desinteresse herauslesen, relevant für zukünftige Generationen zu sein. Die Wichtigkeit eines Schriftstellers zeigt sich nur über sein ästhetisches Vermögen eines Textes.

Wenn man die Kunstfertigkeit eines Textes untersucht, dann …

… erlaubt es sich, diesen frei von Nachhaltigkeitsgedanken und Kontexten, innovativ oder genial konzipiert zu sehen. Das ist der Grund, warum Kafka für sich stehend weiterhin überzeugt. Viele Themen des Kafka’schen Werks spiegeln sich auch im Heute wider und lassen sich in unsere gegenwärtige politische Konstellation hineinprojizieren. Das deutet auf die Perspektivität Kafkas hin. Er ist sicher in seinem Schreiben ein Autor zukünftiger Generationen, wenngleich unsere Genera­tion heute sinnloser als in seiner Zeit lebt.

Da wären wir bei der Sinnfrage …

Diese spielt in den Texten Kafkas immer eine Rolle. Sie ist auch für die heutige Kultur von enormer Bedeutung. Ob er einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts ist, würde ich auch dahinstellen. Die Bedeutung wird in der Rezeption, in Auflagen oder in der quantitativen Lesbarkeit bemessen. Literatur ist in ihrem Kulturgenuss individuell und kann nicht kontextuell verallgemeinert werden. Das muss bedacht werden, und die Frage der Relevanz kann nur als eine Frage zurück hin zur Kultur, in der wir leben, geworfen werden.

Kann man sagen, dass Kafka die moderne Literaturlandschaft in Bezug auf Existenzialismus und Absurdität geprägt hat?

Beziehen wir uns auf die zynische Behauptung des französischen Philosophen Bruno Latour, dass wir nie modern gewesen seien, so orten wir in Kafkas Werk ein Beispiel. So ist es er selbst, der das Nichtmoderne in der modernen Gesellschaft und hier die Überheblichkeit der Beamten und die lähmenden ­Hierarchien kritisiert. In „Das Schloss“ kann der Protagonist K. das Schloss nie erreichen, weil es einen unerreichbaren Sehnsuchtsort darstellt. Die Vorstellung eines Nichtortes – in seinem Fall ein Nichtsort – ist in Kafkas Schreiben zentral. Seine Themen wie etwa die allgegenwärtige Absurdität und die sinnlose Sinnsuche beeinflussten viele Autoren und besonders Existenzialisten à la Jean-Paul Sartre.

Germanist Hannes Mittermaier. (Foto: privat)
Germanist Hannes Mittermaier. (Foto: privat)

Oft wurde Franz Kafka als ein Autor der Paradoxien betrachtet. Können Sie einige Beispiele schildern?

In der Rhetorik ist die Paradoxie eine widersprüchliche Aussage. Das Beispiel „Ich weiß, dass ich nichts wie“ behauptet Wissen und Nichtwissen zugleich. Paradoxien lassen sich im Unterschied zu nicht direkt deutbaren Chiffren lösen. Kafkas Werk ist mehr von Absurditäten geprägt. In den Werken „Das Schloss“ und „Die Verwandlung“ führt die Paradoxie zur Absurdität. Seine Literatur überschreitet die Grenzen rationalen Denkens und erkundet parallel dazu absurde Gebiete. In „Ein Bericht für eine Akademie“, wo ein Affe die menschliche Wissenschaftsaktivität kritisiert, wird auch die Funktionsweise Kafkas als Autor deutlich.

Wie sehr hat sein Einfluss die zeit­genössische Literatur gelenkt? Gibt es Autoren oder Werke, die deutlich von ihm inspiriert sind?

Autoren, die durch ihr Schreiben in der Rezeption ein Adjektiv bekommen haben, sind in ihrer Stilistik besonders. Das trifft auch auf Kafka zu. Das Adjektiv „kafkaesk“ wurde im Duden aufgenommen und beinhaltet die Unverwechselbarkeit einer immer gleichbleibenden Atmosphäre. Kafkas Protagonisten befinden sich in einem Umfeld, das keinen Fortschritt kennt und ein stetes Bestreben verfolgt, das in letzter Instanz immer verneint wird. Sein Schreiben ist von Ausweglosigkeit und Zurückweisung geprägt. Das psychologische Verständnis, besonders in der Vater-Sohn-Beziehung, drückt sich in seinen Werken immer wieder aus. Thomas Mann und Rainer Maria Rilke wurden stark von Kafka beeinflusst, genauso wie Thomas Bernhard.

Sollten die Menschen mehr Kafka lesen, um die Komplexität des Lebens zu begreifen?

Menschen sollten immer lesen, da lesen bereichert und hilft, um sich selbst zu finden. Um zur Selbsterkenntnis zu erlangen, ist es nötig, zu lesen. Aber explizit Kafka? Seine Lektüre sollte aus eigenem Antrieb erfolgen. Kafka in der Schule zu lesen, ist ein Wagnis. Man muss die richtigen Texte auswählen und kommentieren können, um die Komplexität des Lebens zu verstehen. Das ist ein großer Anspruch, den vielleicht sein Werk nicht generieren kann und will. Zunächst zeigt Kafka. Dieses Zeigen ist ein ästhetisches Betrachten. Kafkas geschultes Auge ist zur geschulten Feder des Schriftstellers geworden. Dieser löst nicht die Komplexität des Lebens, sondern scheitert eher durch sein Schreiben daran. Seine Helden sind immer Antihelden. Und ob nun dieser Antiheld-Blick innerhalb der Kafka’schen Literatur angebracht ist, um die Lebenskomplexität zu begreifen, ist fraglich. Kafka hat keine Lösungen, nur vertiefte Blicke in die Rätsel des Lebens. Wer Kafka nutzt, um die Komplexität des Lebens auszuweiten, der erfährt neue Perspektiven und einen geschulteren, vertieften, ästhetisch künstlerischen, mit historischen Inhalten versehenen Blick auf die Welt. Dann können ihn alle lesen, die sich mit derlei Dingen beschäftigen möchten.

Welche Herausforderung stehen der Interpretation von Kafkas Werken im Hinblick auf ihre Vielschichtigkeit gegenüber?

Kunst ist Kunst und anders als der Alltag. In der Kunst gibt es keine Wahrheiten, nur Interpretationen. Um sich der Kafka’schen Welt zu nähern, braucht man eine Treppe, die man langsam besteigt. Zu Beginn wirken die Werke gespenstisch, surreal oder grotesk, beinahe schon lächerlich, übertrieben und pessimistisch. Der geschulte Leser, der weiter auf der Treppe hinaufschreitet, kann sich den Motiven nähern, um sie schneller zu verstehen. Es ist wie mit einem Schachspiel: Wer naiv zuschaut, wird nichts verstehen. Erst mit Kenntnis der Regeln werden geniale Züge erkennbar. So müssen wir Kafkas Regeln und Spitzfindingkeiten ergründen. Es bedarf der Übung, der Motivation und der Bereitschaft. Auch die Wissenschaft benötigt Offenheit diesem Werk gegenüber und die Treppe, um ihm näherzukommen.

Interview: Andreas Raffeiner

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