Leben und Tod sind miteinander verschränkt

Predigt des Bischofs Bertram Meier am Aschermittwoch 2025 im Hohen Dom zu Augsburg

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„Es ist heilsam, dass die Kirche uns heute sagt: Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst“, sagte Bischof Bertram Meier in seiner Predigt am Aschermittwoch 2025.

„Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.“ Diesen Choral stellen wir bewusst an den Anfang der Fastenzeit. Denn er bringt eine Erfahrung ins Wort, die unbestritten ist. Mitten im Leben klopfen Vorboten des Todes an: Kinder gehen aus dem Haus. Die Pensionierung steht an. Krankheiten schwächen. Die Kraft der Augen lässt nach. Die Haare werden weniger und grau. Die Zähne fallen aus. Womit uns der Alltag konfrontiert, das bekommt heute eine liturgische Form. Die Kirche sagt uns auf den Kopf zu:

„Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst.“ Es stimmt: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Leben und Tod sind miteinander verschränkt. Wenn wir uns das Aschenkreuz auf die Stirn legen lassen, dann sollten wir über das äußere Zeichen hinausschauen. So wollen wir vor der heiligen Handlung im Geist die Asche langsam durch die Finger gleiten lassen und auf diese Weise verweilend erspüren, welche Botschaft das Aschenkreuz für uns bereithält.

Die Asche, mit der wir bestreut werden, ist aus den Palmzweigen des Vorjahres gewonnen. Damals haben wir „Hosianna“ gesungen, wie die Frauen und Männer, die Jesus in Jerusalem einen triumphalen Empfang bereitet hatten. Nicht nur vor zweitausend Jahren, auch heute ist der Kontrast oft groß zwischen dem Feuer, das rasch aufflackert, und dem Häuflein Asche, das später übrigbleibt. Was alles im Leben hat einmal feurig begonnen und mit der Zeit ist es ausgebrannt! Unsere Versprechen: einst Feuer und Flamme, dann nur mehr Schall und Rauch. Unsere Vorsätze nach Kuraufenthalten und Ferienwochen, nach Exerzitien und Lebensbeichten: Wie schnell sind sie oft in sich zusammengefallen! Was ist geblieben vom Feuer der Jugendzeit? Voller Begeisterung sind wir angetreten zur Hochzeit, zur Profess oder zur Weihe. Brennt es noch – das Feuer der Liebe?

Ich denke an die Liebe zwischen zwei Menschen, die vor Jahren plötzlich und heftig aufgeflammt war und so viel in deren Leben verändert hat. Sie hat den einen um des anderen willen geläutert und Geborgenheit verbreitet. Inzwischen ist vieles erloschen. Das Hosianna der Komplimente ist in der Ernüchterung der Gewöhnung erstickt. Es ist kalt geworden – nicht nur in der Wohnung, sondern auch im gemeinsamen Lebenshaus: nur mehr Asche dort, wo einst glühende Worte, Zuneigung und Zärtlichkeit wärmten.

Es ist heilsam, dass die Kirche uns heute sagt: Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst. Die Asche, die durch meine Finger läuft, erinnert mich auch an mein Verhältnis zu Gott. Die Freude an Gott, der meine Kraft ist, der mich persönlich gerufen hat, kann wie ein loderndes Feuer sein. Wie stark brennt es noch? Habe ich vielleicht zu wenig dafür getan, dieses Feuer wach zu halten? Oder habe ich zugelassen, dass Menschen und Ereignisse es zudecken oder gar austreten konnten? Im Buch der Geheimen Offenbarung lässt Gott den Johannes an die Gemeinde von Ephesus schreiben: „Ich werfe dir vor, dass du deine erste Liebe verlassen hast. Kehr zurück zu deinen ersten Werken“ (Offb 2,40f.).

Ach, Mensch, bedenke: Du bist Staub; und was bleibt von deinen Vorsätzen und Versprechen, von deinem Glauben und von deiner Liebe, es ist oft auch nur Asche und Staub. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Der Tod im Leben hat viele Namen. Das Leben stirbt in der Regel keinen Sekundentod. Es wird uns nach und nach genommen, Stück für Stück geht es dahin. Wir müssen es lassen. Da hilft weder Tricksen noch sich Drücken. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.

Eine besondere Form dafür deckt unsere Sprache auf: „Der ist für mich gestorben. Die kann ich auf den Tod nicht leiden. Den kannst du vergessen. Die werde ich schon klein kriegen. Den lasse ich über die Klinge springen.“ Es soll Menschen geben, die gehen über Leichen. Wir können jemanden erledigen und fertigmachen, kaltstellen und abschießen. Wir sind imstande, andere tot zu schweigen oder tot zu reden, mundtot zu machen oder Rufmord zu begehen. Es gibt nicht nur die großen Weltkriege, sondern auch alltägliche Kleinkriege, in denen sich Männer und Frauen oft auf engstem Raum Nahkämpfe liefern mit der Waffe messerscharfer Worte. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.

An dieser Stelle fängt die Asche erneut zu sprechen an: Wenn die Bibel erzählt, dass sich jemand Asche auf das Haupt streute, dann umschreibt sie damit ein altorientalisches Bußritual. Man verzichtete auf Speise, Trank und Kosmetik, kleidete sich bescheiden und streute Asche auf den Kopf: Man machte Ernst mit der „Buße in Sack und Asche“. Das ist auch uns gesagt: Bedenke Mensch, auch du bist nicht ohne Schuld. Voller Schuld ist deine Asche.

Würden wir jedoch hier unsere Asche aus der Hand legen, dann wäre uns das Wichtigste zwischen den Fingern zerglitten. Die Auflegung der Asche geschieht auf besondere Weise: in der Form des Kreuzes. „Im Kreuz ist Heil. Im Kreuz ist Hoffnung. Im Kreuz ist Leben.“ So beten wir in der Litanei für die Verstorbenen. Jesus hat das Leben gewonnen im Tod am Kreuz. Er hat sein Leben verströmt und so unserem kleinen und großen Sterben den tödlichen Stachel gezogen. Seitdem das Kreuz auf Golgotha aufgerichtet wurde, hat Gott der Welt gezeigt: Der Zweikampf zwischen Leben und Tod ist aus. Der Tod ist verschlungen vom Leben. Die Waffe des Lebens ist die Liebe.

Das heißt für uns am Anfang dieser Fastenzeit: Je mehr wir es wagen, unsere selbstgebauten Schneckenhäuser zu verlassen, aus uns selbst herauszugehen und uns Gott und den Menschen in Zuneigung auszusetzen, umso mehr lassen wir jetzt schon den Tod hinter uns. Denn „wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder (und Schwestern) lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod“ (1 Joh 3,14).

So bitte ich euch, liebe Brüder und Schwestern, an Christi statt:
Lasst euch mit Gott und den Menschen versöhnen (vgl. 2 Kor 5,20)!
Lasst euch ein auf das Grundgesetz der Liebe, die stärker ist als der Tod! Lasst los – eure Bilder von Gott, den ihr in so enge Rahmen gepresst habt! Lasst los – eure Kinder, die laufen lernen müssen im Leben!
Lasst los – eure „Plätzchen“ an der Sonne und Eure „Pöstchen“, an die ihr euch klammert, nur um wichtig zu scheinen!

Lasst los – die Menschen, die ihr knebelt und fesselt mit euren Ansprüchen und Wünschen!

Lasst los – alles, was euch unfrei macht und euch hindert, die christliche Liebe zu leben!

Darin liegt der tiefste Sinn des Aschenkreuzes: Loslassen lernen, um im Lieben neu aufzuleben. Bedenke, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst. Bedenke aber auch, dass du mehr bist als ein Häuflein Elend. Schon bei deiner Taufe hat dir der Priester ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet: mit Chrisam, heiligem Öl. Das Aschenkreuz wirst du wegwaschen. Das Kreuz mit Chrisam ist wasserfest: tief eingeprägt in deinem Herzen. Das Chrisamkreuz ist dein unauslöschlicher Charakter. Stehe zu deinem „Charakter“ als Christ! Verspiele ihn nicht! Bedenke Mensch, du bist gesalbt mit Chrisam. In dir lebt Christus. Der Gekreuzigte und Auferstandene spricht heute dein Inneres an, wie es Pseudo-Epiphanius, ein Theologe der frühen Kirche, ausgedrückt hat: „Steh auf, mein Geschöpf, nach meinem Abbild geschaffen! Erhebe dich, Mensch, lass uns weggehen von hier! Du bist in mir und ich in dir. Sieh die Hände und Füße, von Nägeln durchbohrt, um deine Hände und Füße von der Fessel zu lösen.“

Mit dieser tröstlichen Botschaft lassen wir uns die Asche auflegen. Das Kreuz stellt auch den Choral auf den Kopf. Nicht nur: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Sondern auch: Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen. Also dürfen wir es wagen: Ostern entgegen, dem Fest des Lebens!

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