DDR-Flucht vor 45 Jahren
Mit dem Ballon rübergemacht

In der Nacht des 16. September 1979 wagten die Familien Wetzel und Strelzyk eine der spektakulärsten Aktionen in der schmerzlichen deutsch-deutschen Geschichte: die Flucht mit einem selbstgebauten Heißluftballon aus der DDR in den Westen. Sie waren zu acht an Bord, vier Erwachsene, vier Kinder.
„Wir hatten vorher nicht überlegt, was alles passieren kann“, erinnert sich Günter Wetzel, der den verwegenen Plan zusammen mit seinem mittlerweile verstorbenen Arbeitskollegen Peter Strelzyk ausgeheckt hatte. Nun ist Wetzel an den Ort der Landung zurückgekehrt: in die Gemarkung Finkenflug beim Ortsteil Dreigrün, unweit von Naila in Oberfranken.
Der heute 69-Jährige blickt zurück auf den Moment, nachdem der Ballon im Gesträuch niedergegangen und jeder aus dem Korb ausgestiegen war: „Am Boden war die Spannung weg. Dann kam die Angst. Hatten wir es geschafft oder nicht geschafft? Wir wussten es nicht.“ Während sich die Frauen und Kinder versteckt hielten, irrten die beiden Männer durch die Dunkelheit.
"Sind wir hier im Westen?"
Sie stießen auf einen Hochspannungsmasten und eine Scheune, in der landwirtschaftliche Maschinen standen, deren Modelle sie kontrollierten und zu dem Schluss kamen: Die Typen entsprachen nicht denen der DDR. Dann fuhr ein Polizeiauto vor. „Sind wir hier im Westen?“, fragten die beiden. – „Natürlich, wo denn sonst?” Nach der Begrüßung zündeten die Männer, wie verabredet, eine Silvesterrakete und signalisierten dem Rest der Familien: Alles in Ordnung, ihr könnt kommen.
Ab dem Zentrum von Naila weisen Schilder den Weg zum Landeplatz des Fluchtballons. Das letzte Stück durch den dichten Frankenwald ist für den Verkehr gesperrt. Nur Radler, Fußgänger und Forstfahrzeuge kommen durch. Am Waldrand markiert eine Art Litfaßsäule die Landungsstelle, umgeben von Birken und Blaubeersträuchern. Gegenüber steht ein Ruhebänkchen. Auf der Info-Säule finden sich die wichtigsten Daten und Fakten zur Ballonflucht aufgeführt.
Startplatz: Oberlemnitz bei Lobenstein in Thüringen. Flugdistanz: 20 Kilometer, davon zwölf Kilometer über DDR-Gebiet. Gesamtgewicht: 850 Kilogramm, bestehend aus dem Ballon an sich, der Gondel und der zwei Quadratmeter kleinen Plattform, den Propangasflaschen und der Besatzung. Füllmenge: 4000 Kubikmeter, damit seinerzeit der größte Heißluftballon Europas. Dauer der Luftfahrt: etwa 30 Minuten zwischen zwei und drei Uhr morgens. Flughöhe über Grund: 2000 Meter.
Was hier nicht steht: Hoch am mondhellen Nachthimmel spielte sich das ab, was zum tödlichen Drama hätte geraten können. Wetzel erinnert sich: „Uns ging das Gas aus. Das war schneller alle, als wir gedacht hatten. Wir wussten ja gar nichts über Ballonfahren und konnten gar nichts steuern. Der Ballon ging runter, hatte aber eine gute Fallschirmwirkung. Ein Glück, dass wir auf Büschen gelandet sind.“
Wie ein Thriller
Die ganze Geschichte liest sich wie ein Thriller. Kein Wunder, dass die Flucht im US-Streifen „Mit dem Wind nach Westen“ (1982) von Disney und in Michael „Bully“ Herbigs deutschem Film „Ballon“ (2018) ihren Niederschlag fand. Der mit den Stars John Hurt und Beau Bridges besetzten Disney-Verfilmung von Regisseur Delbert Mann – immerhin Oscarpreisträger – kann Wetzel bis heute nichts abgewinnen: „Ein richtiger Klischeefilm. Einzelne Szenen sind lächerlich.“ Bei Herbig sei „vieles realistischer dargestellt“, der Film „gut gemacht“.
Die Idee zum Bau eines Heißluftballons kam Günter Wetzel, als er in einer Zeitschrift über das jährliche Ballonfahrertreffen im mexikanischen Albuquerque las. „Neben dem Bericht waren auch einige Bilder von Heißluftballons zu sehen, und bei diesem Anblick ist mir die Idee gekommen, dass dies eine Möglichkeit wäre, die Grenzanlagen zu überwinden“, erinnert sich Wetzel.
Er erzählte seinem Kollegen Strelzyk von der Idee. Obgleich sich beide später zerstritten und nicht mehr versöhnten, war die Vertrauensbasis untereinander da. Schließlich wusste man in der DDR nie, ob nicht irgendwer ein Spitzel der Stasi war. Heimlich bauten sie einen ersten Ballon und einen zweiten, ein Startversuch missglückte. Erst der dritte Ballon brachte den Durchbruch, aber die Stasi war ihnen bereits auf den Fersen.
„Wir waren startbereit“
Dann griff eins ins andere: Entladung des Materials aus dem Kofferraum und Anhänger, Aufbau des Korbs, Montage der Gasflaschen und des Brenners, Ausbreitung der Ballonhülle. Dank eines leistungsstarken Gebläses füllte sich der Ballon in fünf Minuten. „Da wir in einer Waldlichtung waren und es nahezu windstill war, stand der Ballon ruhig und stabil über dem Korb, und wir waren startbereit“, sagt Wetzel.
Dann stieg der selbstgebastelte Ballon in den Nachthimmel auf. In der Luft aber verloren Günter Wetzel und seine Mitstreiter die Orientierung. Bei den niedrigen Temperaturen ging die Flamme des Brenners aus. Sie wussten, erinnert sich Wetzel an die entscheidenden Augenblicke, dass die DDR-Grenzer nicht hochschießen durften. Das änderte sich erst später. Der Ballon sank zügig abwärts. Alles nahm einen glücklichen Ausgang.
Herausfordernd war, ausreichende Stoffmengen für die Ballonhülle zu besorgen. Stets schwang die Angst mit, die Geschäfte könnten größere Einkäufe melden. Die Entfernungen wurden immer größer, laut Wetzels Webseite fuhren sie „durch die gesamte DDR bis nach Rostock und Schwerin“. Kurz vor der Flucht musste schließlich alles ganz schnell gehen, weil die Wetterprognose für die anstehende Nacht vom 15. auf den 16. September 1979 optimal war.
„Der Ballon war endlich fertig, aber wir konnten ihn nicht mehr testen“, erzählt Wetzel. „Da wir in nächster Zeit kaum noch einmal so eine günstige Gelegenheit bekommen würden, haben wir darauf verzichtet und uns entschlossen, den Versuch zu wagen.“ Mit einem Wartburg und einem Moped schafften sie es, gegen ein Uhr am vorbestimmten Startplatz anzukommen. Dort verhielten sie sich ruhig und beobachteten, ob ihnen jemand gefolgt war.

Weder Held noch Vorbild
Profit hat Wetzel aus seiner Story nie geschlagen. Bei der Landung zog er sich einen Muskelfaserriss zu und musste seinem Partner Strelzyk die Vermarktung der Geschichte überlassen. Dass sie dabei von den westlichen Medien über den Tisch gezogen wurden, steht heute für ihn außer Frage. „Wir waren dumme Ossis, aber zufrieden mit dem“, urteilt er lapidar. Von den Medien hatte er bald die Nase voll und zog sich zurück.
Im Westen schulte Wetzel, der zuvor Maurer und Berufskraftfahrer war, auf Kfz-Mechaniker um. Fünf Tage nach dem Mauerfall betrat er erstmals wieder das Gebiet der alten DDR und war fortan „fast täglich im Osten unterwegs“: im Außendienst als technischer Gebietsleiter in der Automobilbranche. Heute ist er Rentner, lebt in Chemnitz und ist ins Licht der Öffentlichkeit zurückgekehrt. Als Zeitzeuge hält er Vorträge in Schulen und Vereinen.
Es ist ihm ein Anliegen, sagt er, vor allem den Jüngeren von der Vergangenheit zu erzählen: „Die hören wirklich zu, verstehen aber nicht alles.“ In der Rückschau fühlt Günter Wetzel sich weder als Held noch als Vorbild. Es ist seine Art, sich bescheiden zurückzunehmen. Hat er das Ganze jemals bereut? „Nie“, antwortet er. Andreas Drouve
Information
Die Webseite von Günter Wetzel finden Sie unter www.ballonflucht.de.