Ost und West 35 Jahre nach dem Mauerfall

Historiker im Interview: Die Kluft ist tiefer geworden

 — © Foto: Imago/imagebroker
Foto: Imago/imagebroker
Berlin am 10. November 1989, am Tag nach dem Mauerfall: Menschen aus Ost und West freuen sich über die offene Grenze und feiern das Ereignis gemeinsam. Für viele Ostdeutsche kam bald eine gewisse Ernüchterung.

Vor 35 Jahren fiel die Mauer. Doch auch Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung spricht man noch vom „Osten“ und vom „Westen“. Die Menschen scheinen schwer zueinander gefunden zu haben. Im Exklusiv-Interview spricht der promovierte Historiker Sven Brajer, der aus der Oberlausitz stammt, darüber, wie DDR-Erfahrungen das Denken und Handeln prägten, und was die Menschen und Deutschland gegenwärtig spaltet.

Herr Brajer, der Mauerfall jährt sich zum 35. Mal. Über die Grenzgebiete ist Gras gewachsen. Inwiefern sind die Menschen in Ost und West zusammengewachsen und wo merkt man die jahrzehntelange Teilung auch gegenwärtig noch?

Hätten Sie mich vor zehn Jahren gefragt, wäre meine Antwort eine ganz andere gewesen als heute. Durch die Zäsuren der Jahre 2015, 2020 und 2022 sind „Ossis“ und „Wessis“ meines Erachtens politisch wieder stärker voneinander abgerückt. Das beweisen nicht zuletzt auch die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, in denen die etablierten Parteien der „Ampel“ – aber auch die CDU – massiv unter die Räder gekommen sind und dafür AfD und BSW nie gekannte Prozentzahlen erreichen konnten.

Der westdeutsche, das heißt, der auschlaggebende Umgang mit der sogenannten Flüchtlingskrise, der Corona-Krise aber auch mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten – Stichwort: Waffenlieferungen – stellen für viele Ostdeutsche nach den Erfahrungen mit der Treuhand und der Einführung des Euro erneute transformatorische „Schocks“ dar.

Viele Menschen fühlen sich hier nicht (mehr) abgeholt beziehungsweise einbezogen, einfach nicht gefragt. Die ohnehin deutlich niedrigere soziale Fallhöhe im Osten – aufgrund der immer noch deutlich niedrigeren Einkommen und vor allem des deutlich kleineren Vermögens – verbittert die Menschen, besonders wenn sie sehen, dass offenbar alternativ­los Milliarden an Steuergeldern in alle Welt transferiert werden, während hierzulande Brücken einstürzen und eine mittelständische Firma nach der anderen Insolvenz anmelden muss.

 — © Foto: privat
Foto: privat
Nicht über „den Osten“ sprechen, sondern die Menschen dort sprechen lassen – das ist das Anliegen des Historikers Sven Brajer.

Beim Begriff Mauerfall haben viele Menschen klischeehafte Begriffe im Kopf: Reisefreiheit, verfügbare Orangen und Bananen und andere Luxusprodukte, aber auch Massenarbeitslosigkeit und aussterbende Dörfer. Welche Vor- und Nachteile des Mauerfalls spüren die Menschen noch heute?

All diese genannten Dinge und vieles darüber hinaus haben die Ostdeutschen natürlich gerne angenommen – wer würde das nicht tun, nach 40 Jahren sozialistischer Mangelwirtschaft? Rede-, ­Meinungs-, und Wahlfreiheit sind mindestens genauso wichtig – auch die will keiner mehr missen. Sie wurde von den Menschen, die 1989 in Leipzig, Berlin oder Dresden, aber auch kleineren Orten wie Zittau, auf die Straße gegen die „Betonköpfe“ des Politbüros der SED gingen, hart erkämpft.

Doch auch hier zeigt sich – im Kontext mit den bereits angesprochenen Krisenerscheinungen –, dass sich der Debattenraum in den vergangenen Jahren deutlich verengt hat. Die „aussterbenden Dörfer“ sind leider genauso real – aber nicht nur ein Problem des Ostens. Sie haben mit einer familien­unfreundlichen Politik zu tun, welche – unterfüttert durch Dauerkrisen – die demografische Katastrophe jahrzehntelang ignoriert hat. Bei einem Besuch in der Oberlausitz oder der Uckermark, aber eben auch im Saarland, kann man sie hautnah erleben.

Anders ausgedrückt: Wem politisch und medial immer suggeriert wird, man müsse den Gürtel enger schnallen, der will auch keine Familie gründen. Von „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard), „Die Rente ist sicher“ (Norbert Blüm) und den „blühenden Landschaften“ ist nicht mehr allzu viel übriggeblieben. Eine gewisse Resignation – im Osten noch stärker als im Westen – kann nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden.

Es gibt manchmal erhitzte Debatten darüber, ob die DDR nun ein Unrechtsstaat war oder nicht. Was würden Sie sagen?

Das war sie auf jeden Fall, kein Zweifel, auch wenn viele Menschen sich zwangsläufig mit der DDR arrangieren konnten – nicht jeder ist schließlich zum Revolutionär geboren. Mir fällt allerdings auf, dass vielen Ostdeutschen, die 1989 auf die Straße gegen den „Unrechtsstaat DDR“ gingen, neue, bundesdeutsche „Phänomene“ sauer aufstoßen.

Ich denke etwa an den Kampf gegen ­„verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ oder die Einrichtung von „Trusted ­Flagger“ – also Nicht-Regierungsorganisatio­nen, die seit neuestem in sozialen Medien gegen echte oder vermeintliche „Hassrede“ vorgehen. Auf ein solches „betreutes Denken“ reagieren viele Ostdeutsche nach diversen Jahrzehnten real­sozialistischer Zwangsbeglückung allergisch.

Man hat den Eindruck, die Erinnerung schwankt bisweilen zwischen Aufarbeitung der Stasi-Verbrechen und Verherrlichung des Sozialismus und kollektiven ­Zusammenhalts. Nicht nur bei DDR-Markenprodukten gibt es den Begriff „Ostalgie“. Weshalb sehnen sich Menschen immer noch nach DDR-Zeiten zurück?

Es gab damals eine echte – wenn auch oftmals zwangsläufige – Solidarität untereinander. Das vermissen die Menschen, nicht unbedingt die DDR. Die Berliner Republik dagegen ist heute so gespalten wie nie zuvor in ihrer Geschichte: „Teile und herrsche“ in höchster Form. Jeder kocht sein eigenes Süppchen, an einem fairen Meinungsaustausch sind leider nur noch wenige interessiert. Viele sind oft nur noch „dauer­empört“ und leben in Blasen – das war „früher“ eben anders.

Die DDR wird oft als „zweite Diktatur auf deutschem Boden“ bezeichnet, wenn sie selbstverständlich auch weniger präsent ist als die NS-Zeit. Inwiefern prägt es Menschen, eine Diktatur erlebt zu haben?

Man liest genauer zwischen den Zeilen und lässt sich nicht gern ein X für ein U vormachen. Bei manchem führt das allerdings auch zu einer politischen ­Opposition gegen schlichtweg alles. Statt sich zu engagieren, wird eben gemeckert – und zwar immer: Das Klischee vom „Jammerossi“ trifft daher auf den ein oder anderen DDR-Geborenen durchaus zu.

 — © Foto: Imago/Emmanuele Contini
Foto: Imago/Emmanuele Contini
Unterschiedliche (kritische) Gedanken und Erinnerungen zeigten sich bei der Vorstellung des Rahmenprogramms für die Feierlichkeiten 35 Jahre Mauerfall Ende September 2024 in Berlin.

In der DDR wurden der Regierung missliebige Autoren, Musiker, Wissenschaftler, aber auch „einfache Leute“ mit Publikationsverbot belegt, mussten Repressionen befürchten und wurden unter Umständen auch inhaftiert. Der Westen ist stolz auf Meinungsfreiheit, freie Bildung, unabhängige Presse und demokratische Mitbestimmung. Immer mehr Menschen äußern sich inzwischen aber lieber nicht mehr offen. Wie beurteilen Sie bezogen auf diese Punkte die gegenwärtige Lage in der Bundesrepublik?

Wie bereits angedeutet sehe ich diese Entwicklung – besonders seit 2020 – als fatal an. Vielen verantwortlichen – zumeist westdeutschen – Politikern ist die Tragweite dieser nie gekannten Einschränkungen der Meinungsfreiheit offenbar überhaupt nicht bewusst. Immerhin haben dagegen Leute wie Sahra Wagenknecht (BSW) oder Michael Kretschmer (CDU) zumindest noch ein wenig einen realpolitischen Bezug zum Volk. Darf man das Wort eigentlich noch verwenden?

Ehemalige Bürger der DDR sehen staatliche Eingriffe aufgrund ihrer historischen Erfahrungen besonders kritisch. Ein Mann trägt auf einer Demonstration in Rostock 2022 ein Plakat gegen die ­Corona-Maßnahmen.

Der politische Diskurs verschiebt sich immer stärker ins Internet, doch dieser einstmals anarchistische, libertäre Freiraum – bei mir sind beide Begriffe durchaus positiv besetzt – muss offenbar immer stärker staatlich reglementiert – oder nennen wir das Kind beim Namen: „überwacht“ – werden, um „unsere Demokratie“ zu schützen. Eine fast schon Orwell’sche Verkehrung, die aber nicht nur „im Westen“, sondern weltweit eine problematische Entwicklung im Zeitalter der Hyper­digitalisierung darstellt.

Sie selbst waren beim Mauerfall noch sehr jung. Haben Sie Erinnerungen an diese Zeit? Wie entstand Ihr Interesse an der Geschichte der deutschen Teilung?

Bewusst aus der DDR-Zeit weiß ich fast nichts mehr, außer dass wir im Kindergarten oft das Lied „Kleine weiße Friedenstaube“ gesungen haben – das kennt im Westen keiner. Dann wurde plötzlich alles sehr bunt: von der Werbung im Fernsehen bis zu den Regalen der Supermärkte und Spielzeuggeschäfte. Parallel gab es viel Abriss, Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsschwund – bis heute.

Die einstmalige Stadt der Textilindustrie, in der ich aufgewachsen bin – Ebersbach-Neugersdorf in Ostsachsen –, hat seit 1990 fast die Hälfte ihrer Bevölkerung verloren. Das hat bei mir offenbar tiefe Spuren hinterlassen – und da ich sehr neugierig bin, gehe ich den Dingen gerne auf den Grund.

Wie werden sich Ost und West künftig entwickeln?

Eine fundierte Analyse dazu können Interessierte nächstes Jahr in meinem etwas polemisch betitelten Buch „‚Besserwessi‘ und ‚Jammer­ossi‘? – noch immer keine Freunde?!“ lesen, das im Berliner Eulenspiegel-Verlag erscheinen wird. So viel sei aber vorab verraten: Solange ein Großteil der Eliten in Ostdeutschland aus dem Westen stammt und nur zwei Prozent der gesamtdeutschen Erbschaftssteuer rechts der Elbe anfällt, wird die Kluft tendenziell noch weiter auseinander gehen.

Vielleicht sollten „Ossis“ und „Wessis“ sich daher einfach gemeinsam fragen, ob sie tatsächlich noch, im vermeintlich „besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“ – so sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 3. Oktober 2020 – leben, und was man gegebenenfalls vereint tun kann, um diesen Spruch nicht zu einer Farce verkommen zu lassen.

Interview: Lydia Schwab

 

Zur Person: Sven Brajer, geboren 1984, ist promovierter Historiker, freier Journalist und gelernter Einzelhandelskaufmann. Auf seinem Blog „Im Osten. Perspektiven wider den Zeitgeist“ (imosten.org) will er dem Osten Deutschlands und seinen Menschen eine Stimme geben sowie zum Verständnis für einen manchmal anderen Blick auf die Dinge beitragen.

expand_less