Hans-Jürgen Papier im Interview
Kritik der politischen Korrektheit

Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Es sollte sicherstellen, dass Verbrechen, wie sie in der NS-Diktatur verübt wurden, nie wieder geschehen können. Hans-Jürgen Papier, früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sagt, das Grundgesetz sei „die beste Verfassung, die jemals auf deutschem Boden gegolten hat“. Im Exklusiv-Interview stellt er sich gegen politische Korrektheit und Bestrebungen, Freiheitsrechte einzuschränken.
Professor Papier, was macht das Grundgesetz wertvoll?
Das Grundgesetz ist zweifellos die beste Verfassung, die jemals auf deutschem Boden gegolten hat. Es ist kein blumenreicher Katalog von Programmsätzen und lyrischen Verheißungen, sondern enthält vor allem rechtlich durchsetzbare Freiheits- und Gleichheitsrechte des Einzelnen. Es sieht überdies eine Verfassungsgerichtbarkeit vor, die mit gewichtigen Kompetenzen ausgestattet worden ist und die damit einen erheblichen Beitrag zur Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit individueller Freiheits- und Gleichheitsrechte leisten kann.
Durch die pointierte Herausstellung der Freiheitsrechte kommt die Selbstbeschränkung des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates im Interesse der Freiheit eines jeden Einzelnen zum Ausdruck. Das Grundgesetz gewährleistet und schützt die freiheitlich-demokratische Grundordnung und setzt seinen Feinden rechtsstaatlich eingehegte Grenzen in Gestalt einer wehrhaften Demokratie entgegen. Es konstituiert vor allem mit seinem Freiheitsrechtskatalog eine Werteordnung, die für ein Zusammenleben in Staat und Gesellschaft einen wesentlichen Integrationsfaktor darstellt.
Beinahe täglich hört man derzeit, die Demokratie in Deutschland sei in Gefahr. Als Bedrohungen werden der „Rechtsruck“ oder „Desinformationen“ genannt. Welche Schwächen zeigt das Grundgesetz?
Der demokratische Rechtsstaat kann seinen Gegner nur mit den Mitteln und in den Formen des Rechtsstaats begegnen. Er hat zum Beispiel die Garantie der Meinungsfreiheit zu achten, die für eine Demokratie von besonderer, konstitutiver Bedeutung ist. Das mögen manche als Schwächen des Staates ansehen, aber der Rechtsstaat darf nicht zulassen, dass der Ast, auf dem wir im demokratischen Rechtsstaat sitzen, abgesägt wird, indem unter dem Motto der Rettung von Demokratie und Rechtsstaat undemokratische und rechtsstaatswidrige Mittel und Methoden eingesetzt werden.
So ist beispielsweise ein Verbot politischer Parteien des rechts- oder linksextremistischen Spektrums nur unter sehr engen und strengen Voraussetzungen zulässig und kann nur vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden. Auch müssen individuelle Meinungsäußerungen hingenommen werden, selbst wenn sie von der Mehrheit als schädlich oder gefährlich eingestuft werden.

Laut einer Allensbach-Umfrage bekunden 44 Prozent der Menschen, dass sie mit freien Meinungsäußerungen vorsichtig sein müssten.
Die Meinungs- und Pressefreiheit ist im demokratischen Rechtsstaat ein besonders hohes Gut. Sie findet ihre Grenzen im Wesentlichen im allgemeinen Strafrecht, etwa in den Strafbestimmungen der Beleidigung und Volksverhetzung. Der Versuch, die Grenzen der Meinungsfreiheit weiter in Richtung von Verboten und Beschränkungen zu verschieben, ist entschieden zurückzuweisen.
Ein besonderes Problem besteht darin, dass der Versuch von Meinungsbeschränkungen immer öfter gar nicht vom Staat selbst, sondern von gesellschaftlichen Gruppierungen ausgeht. Hier kann es sich zwar nur um faktische Beschränkungen handeln, aber der Staat hat insoweit besondere Schutzpflichten zur Erhaltung und Durchsetzung der freien Meinungsäußerung wahrzunehmen. Das von Ihnen angesprochene Missbehagen hängt im Wesentlichen mit diesen von der Gesellschaft selbst ausgehenden Übergriffen zusammen.
In diesem Kontext sind beispielsweise die zunehmenden Angriffe auf die Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit durch zivilgesellschaftliche Gruppierungen zu nennen. Sie erzwangen beispielsweise die Absage von Vortragsveranstaltungen politisch unliebsamer Referenten oder des Auftritts von Künstlern, die sich aus der Sicht der politischen Lobbyisten nicht politisch korrekt verhalten hätten.
Hier gilt es, die in den Grundrechten der Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit verkörperten verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen über eine entsprechende Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts strikt zur Geltung zu bringen, was insbesondere durch die zuständigen Fachgerichte zu erfolgen hat. Ob dies in hinreichendem Maße geschieht, muss von den Verfassungsgerichten überprüft werden.
Vor einiger Zeit verfassten Sie ein Buch mit dem Titel „Freiheit in Gefahr“. Welche Grundrechte sind Ihrer Meinung nach besonders in Gefahr und was bedroht sie?
In den Krisenzeiten der heutigen Tage sind in der Tat die sogenannten Kommunikationsfreiheiten, also insbesondere die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit, bedroht. Die fortschreitende Digitalisierung hat überdies zu Beschränkungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, insbesondere des Rechts auf Datenschutz und des sogenannten Computergrundrechts geführt. In Zeiten der Pandemie waren darüber hinaus viele elementare Freiheitsrechte durch Kontaktverbote, Ausgangssperren, Besuchs-, Reise- und Berufsausübungsverbote sowie Schul- und Universitätsschließungen massiv eingeschränkt.
Wie kann man Ihrer Meinung nach die Grundrechte stärken?
Alle Träger von Staatsgewalt – also die Legislative, die Exekutive sowie die Gerichte – müssen sich immer bewusst sein, dass der höchste Zweck des Staates die Freiheit ist und dass jeder staatliche Eingriff in die Freiheitsrechte seiner Bürger der besonderen Rechtfertigung, insbesondere am Maßstab der Verhältnismäßigkeit bedarf.
Inwiefern hat sich das Bewusstsein der Menschen für die Bedeutung des Grundgesetzes seit 1949 verändert?
Um Friedrich Schiller zu zitieren: „Die schönsten Träume von Freiheit werden ja im Kerker geträumt.“ Ich will sagen, in den letzten Jahrzehnten war die Freiheit in der deutschen Bevölkerung zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die man nicht besonders pflegen und ständig erkämpfen muss. Sie verlor damit im Laufe der Zeit zunehmend an Wertschätzung.
Ich stelle aber in zunehmendem Maße eine Umkehr im Hinblick auf die Wertschätzung von Freiheit und die Wahrnehmung ihrer Bedrohungen fest, nicht zuletzt nach den Erfahrungen in Zeiten der Pandemie mit ihren bislang unvorstellbaren Freiheitsbeschränkungen. Aber auch der Freiheitskampf der Ukrainer gegen die russischen Invasoren hat in unserer Bevölkerung wohl einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Interview: Lydia Schwab