300 Tage Krieg im Gazastreifen
Die „Gefangenen der Hoffnung“

Kriege beginnen meist nicht aus heiterem Himmel. Sie haben eine Vorgeschichte – auch der Krieg im Gazastreifen. „Hamas hat den gegenwärtigen Krieg begonnen, aber nicht die Besatzung und Unterjochung des palästinensischen Volkes“, schrieb zu Weihnachten 2023 der palästinensische Theologe Naim Stifan Ateek an US-Präsident Joe Biden.
Ateek, 1937 in Beisan (hebräisch: Bet Shean) südlich des Sees Genezareth geboren, hat als Kind den ersten israelisch-arabischen Krieg 1948/49 miterlebt. Seine Familie musste – wie 750 000 Landsleute – ihre Heimat verlassen. Lange war der anglikanische Domherr Seelsorger in Jerusalem – bis er Kindern und Enkeln in die USA hinterher zog.
„Ich bin zutiefst schockiert und betroffen, wenn ich auf die zerschmetterten, verbrannten Kinder von Gaza und Süd-Israel schaue“ – so hatte er seinen Brief begonnen und dann die Warnung ausgesprochen: „Die entsetzlichen Gräuel-
taten, deren Zeugen wir sind, werden niemals diesen mindestens 75-jährigen Konflikt beenden, sondern unausweichlich zu mehr Gewalt und Verlust unschuldigen Lebens führen.“
Den Konflikt beilegen
In seinem Brief schlägt Ateek sechs vertrauensbildende Maßnahmen vor, die helfen sollen, den Konflikt beizulegen: darunter eine Autobahn und Zugverbindung zwischen Gazastreifen und Westjordanland unter UN-Kontrolle, Vorbereitungen zur Rückführung jüdischer Siedler aus den palästinensischen Gebieten nach Israel und eine Lösung für die palästinensischen Heimatvertriebenen von 1948.
Jerusalem soll als gemeinsame Stadt für Palästinenser und Israelis unter UN-Supervision gestellt und ein Schutz der heiligen Stätten aller drei Religionen vereinbart werden. „Nach einer bestimmten Zahl an Jahren und einer Periode wirtschaftlichen Wohlergehens, Friedenserziehung und Heilung können Palästinenser und Israelis entscheiden: Ein-Staat-Lösung oder Konföderation.“
Seit Ateeks Brief an Joe Biden wurden Zehntausende weitere Palästinenser getötet. Hamas, Islamischer Dschihad und andere radikale Palästinenser-Milizen schießen immer noch Raketen auf den Süden Israels ab, während die libanesische Hisbollah Raketen und Drohnen auf den Norden des Landes abfeuert. Fast zehn Monate dauert der Vergeltungsschlag gegen Gaza nun bereits an, den Israel als Reaktion auf den furchtbaren Hamas-Terror vom 7. Oktober gestartet hatte.
Bombardements sind trauriger Alltag
Bombardements sind die Menschen in Gaza seit Jahren gewohnt. Wenn in vergangenen Konflikten das israelische Militär einen Angriff flog und ein Gebäude traf, waren stets Kinder, Jugendliche und Erwachsene umgehend zur Stelle, um die Ruine unter hohem Risiko auszuschlachten: Ob Metall, Fliesen oder Holz – alles wurde gebraucht und weggeschafft.
Der aktuelle Krieg allerdings übertrifft alle bisherigen Kriege und Militäroperationen Israels bei Weitem. Experten schätzen, dass Gaza aktuell mit etwa 40 Millionen Tonnen Trümmern bedeckt ist. Um nur die Trümmer zu beseitigen, benötigt Gaza 600 Millionen US-Dollar. Der Wiederaufbau, schätzen die Vereinten Nationen, dürfte bis 2040 dauern und mehr als 40 Milliarden US-Dollar kosten.
Seit rund 300 Tagen und Nächten irren Menschen durch den Gazastreifen, suchen Angehörige und dringend benötigte Medikamente, leiden Hunger und fliehen vor Raketen, Bomben – und mitunter auch vor Islamisten, die sie als lebende Schutzschilde missbrauchen. Mindestens 38 664 Palästinenser wurden dem „Humanitarian Situation Update #191“ der UN-Agentur OCHA vom 15. Juli zufolge seit 7. Oktober 2023 getötet. Auch 326 Soldaten der israelischen Armee kamen bei dem Einsatz ums Leben.
120 Geiseln – meist Israelis, aber auch einige mit anderer Nationalität – hält die Hamas nach wie vor im Gazastreifen fest. Einige sind bereits gestorben. Über 1,9 der 2,3 Millionen Bewohner Gazas sind auf der Flucht. Allein in einer Schule in Deir al-Balah hausen 14 000 von ihnen. Jeweils 560 müssen mit einer Toilette auskommen. Gazaweit, heißt es, sind „etwa 30 000 Schwangere akut von Hunger bedroht“.

Tote im Westjordanland
Der andauernde Krieg verheert nicht nur den Gazastreifen, er trifft auch Palästinenser im Westjordanland. Dort wurden zwischen 7. Oktober 2023 und 1. Juli 2024 – von westlichen Medien kaum beachtet – 539 Palästinenser getötet, darunter 131 Kinder. Die meisten starben durch die Hand israelischer Soldaten, zehn fielen jüdischen Siedlern zum Opfer. In sieben Fällen ließ sich der Täter nicht ermitteln.
Dass die Siedler den Fokus auf Gaza zu ihren Gunsten nutzen, belegen seit dem vergangenen Herbst über 30 Erklärungen und Berichte der israelischen Friedensorganisation „Frieden jetzt“ (hebräisch: Schalom achschav). Siedler vertreiben demnach Palästinenser, errichten eigenmächtig Außenposten, sperren palästinensische Straßen für den Verkehr und bedrohen – teils in Armeeuniform gekleidet – palästinensische Bauern und Hirten.
Christliches Begegnungsprojekt
Auch Daoud Nassar vom christlichen Begegnungsprojekt „Zelt der Völker“ bei Bethlehem erlebt dies seit einem dreiviertel Jahr, berichtete er auf seiner Deutschlandtour im Juni. Kurz zuvor hatte der evangelische Friedensaktivist einen „dringenden Appell gegen Landenteignung“ veröffentlicht. Darin schildert er drei Versuche der Siedler, eine Straße durch sein 42 Hektar großes Grundstück zu bauen.
Außerdem behindern „Beschränkungen beim Zugang zum Land“ sowie „zunehmende Einschüchterungen und Schikanen durch israelische Soldaten und Siedler“ die Entwicklung dieses Leuchtturmprojekts für Verständigung, dessen Leiter Nassar seit 2000 ist. Als solcher organisiert er Jugendtreffen auf seinem Grundstück und bereist die Welt, um für Verständigung und Frieden zu werben.
„Frieden jetzt“ beziffert die Zahl der jüdischen Siedler im Westjordanland auf 479 000 in 146 Siedlungen und 191 Außenposten. Sie behinderten mitunter auch Hilfskonvois, die Lebensmittel an die Übergänge zum Gazastreifen fahren, verprügeln Fahrer, beschädigen die Fracht oder setzen LKWs in Brand, hört man von den Aktivisten. Menschenrechtler werfen dem israelischen Militär und der Polizei vor, absichtlich wegzuschauen.
Auch in Ostjerusalem spürt man den Krieg. Der Rückgang an Touristen und Pilgern bringt Hotels, christliche Gästehäuser, Souvenirhändler und Reiseleiter in Existenznot. Matthias Vogt, Generalsekretär des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande, bittet etwa um Unterstützung für das Schmidts Girls College am Damaskustor. Die Zukunft dieser Mädchenschule, für Vogt ein „wahrhafter Fels in der Brandung“, sei bedroht: „Viele Familien können sich das Schulgeld für ihre Töchter kaum noch leisten – und auch die öffentlichen Zuschüsse wurden massiv gekürzt.“
„Wir wissen nie, was Israel als Nächstes tut“, beschreibt ein palästinensischer Christ die Lage. „Wenn bei dir ein Dieb einbricht, rufst du die Polizei, und wenn es brennt, die Feuerwehr. Wir aber haben niemanden, den wir anrufen könnten, wenn israelische Soldaten uns bedrohen oder wenn Siedler sich versammeln und auf Dörfer zumarschieren. Wir fühlen uns hilflos, machtlos, ängstlich, verlassen.“
Dutzende christlicher Palästinenser in Jerusalem stehen vor ihrer Auswanderung. Allein aus Bethlehems Nachbarort Beit Sahour sollen seit Herbst 2023 bereits 40 palästinensisch-christliche Familien ausgewandert sein. Auch Israelis verlassen ihr Land. Meist sind es liberal gesinnte Menschen, die angesichts einer zusehends rechtsextremen Regierung keine Zukunft in ihrer Heimat sehen.
Die Betreiber des renommierten Restaurants Majda außerhalb Jerusalems haben nach 14 Jahren aufgegeben. „Dieses Land ist voller Hass und Schmerz“, urteilt das binationale Paar. Er ist Palästinenser, sie Jüdin. Die seit der Hamas-Attacke im Oktober 2023 ausbleibende Kundschaft war ein Grund für die Aufgabe. Schwerer aber, sagt das Paar, sei die fehlende Friedensperspektive. Nun wagen die beiden im Ausland einen Neuanfang: in Frankreich.
Reif für den Frieden
Einen solchen hat das seit der zweiten Intifada der Jahre 2000 bis 2005 stark dezimierte israelische Friedenslager nun versucht. Etwa 50 Organisationen luden Anfang des Monats in Tel Avivs Menora-Arena. „Die Zeit ist reif“, schrieben sie in der Ankündigung, „den Krieg zu beenden, alle nach Hause zu bringen und Frieden zu stiften.“ 6000 Menschen lauschten Dutzenden Rednern, darunter Angehörige von Opfern des 7. Oktober, Knesset-Abgeordnete und eine befreite Geisel.
Der israelische Journalist und Kriegsdienstverweigerer Haggai Matar sieht die Konferenz zwiegespalten. Einerseits blendete sie seiner Meinung nach den anhaltenden Horror des Kriegs aus. Das Friedenslager könne auch keinen klaren Plan für ein Ende des Konflikts vorlegen. Die Veranstaltung sei daher „fehlerhaft“. Andererseits nennt Matar die Konferenz anerkennend „ein radikales Angebot der Hoffnung“.
Hoffnung hegt auch der palästinensische Theologe Ateek. „Mister President, wir bitten Sie, uns zu führen als jemand, der Menschen mit der Vision von Gerechtigkeit und Frieden begrüßt“, schrieb er an Joe Biden. „Lassen Sie Ingenieure, Architekten, Anwälte, Sozialarbeiter, Psychologen, Politiker, Imame, Rabbis und Pfarrer anfangen, für die Erfüllung dieser Vision zu träumen, zu arbeiten, zu beten.“
Dann verweist der Mittachtziger in seinem Schreiben auf „unseren geliebten Erzbischof Desmond Tutu“. Er sei zeitlebens überzeugt gewesen: „Wir sind Gefangene der Hoffnung.“ Daher, endet Ateeks Brief an Biden, „hege ich große Hoffnung, dass Sie sich anschließen, diese Vision wahr werden zu lassen – eine, die kühne Aktionen und eine Leidenschaft für Gerechtigkeit erfordert“. Johannes Zang
