Wo der „Narro“ zu Hause ist

Das südbadische Villingen ist eine Hochburg der schwäbisch-alemannischen Fasnet

 — © Foto: Roman Krauß
Foto: Roman Krauß
Die Stachis im blauen Hemd folgen dem Butzesel, der für Fleischeslust und Übermut steht.

Durch seine jahrhundertelange Zugehörigkeit zu Vorderösterreich ist Villingen katholisch geprägt. Gerade dadurch ist der badische Teil der Doppelstadt Villingen-Schwenningen eine Hochburg der schwäbisch-alemannischen Fasnet. Wer den traditionsreichen Villinger Narro gesehen hat, weiß: Hier hat man es mit einer durch und durch hoheitsvollen Narrenfigur zu tun, die eindeutig den Aristokraten herauskehrt.

Dementsprechend ist jene majestätische Hauptfigur der Villinger Fasnet, übrigens der größten und traditionsreichsten in der Region, in einen nach Zunftvorschrift weit geschnittenen, weißen Leinenanzug mit bunter Bemalung gekleidet. Dazu trägt sie eine aufwendig gefältelte weiße Halskrause mit einer bunten Seidenschleife vorne und präsentiert in der Hand die „Foulards“, bunte Seidentücher.

Auffallend ist auch ein langer Fuchsschwanz an ihrer Kappe: ein in der Vorstellungswelt des späten Mittelalters ziemlich negativ bewertetes Attribut, das Falschheit, Heuchelei und Unaufrichtigkeit signalisieren sollte. Am bemerkenswertesten aber ist die Scheme – so der Villinger Ausdruck für Maske – aus glattem, feinstem Lindenholz, die dem Betrachter meist ein mehr oder weniger „aufpoliertes“ Antlitz mit einem angedeuteten, tiefgründigen Lächeln zeigt. Das könnte man als beliebige Äußerlichkeit werten.

Dieser in mehrfacher Hinsicht glatte Gesichtsausdruck, der wenig Aussage über die jeweilige Gefühlslage erlaubt, beinhaltet viel kulturhistorische Symbolik, nämlich den „schönen Schein“. Vielleicht auch aus diesem Grund legt der Villinger Narro in der Öffentlichkeit seine Scheme nicht ab, Anonymität ist alles. Jede Scheme ist ein Unikat. Die ältesten stammen wohl aus dem späten 17. Jahrhundert und entsprechen dem barocken Maskenideal.

Den Villinger Narro gibt es seit Jahrhunderten. Abbildungen aus dem 18. Jahrhundert zeigen, dass die Figur seinerzeit bereits so ausgesehen hat wie heute. Schon damals kennzeichneten ihn die vier Glockenriemen mit jeweils elf bronzenen runden Hohlkugeln, den Rollen, die der Narro überkreuz über der Schulter trägt.

 — © Foto: Roman Krauß
Foto: Roman Krauß
Der Narro mit seiner traditionellen glatten Maske und seinen Glockenriemen.

Es ist ein ganz ordentliches Gewicht, das der Narro über viele Stunden mit sich herumträgt – ohne es einfach ablegen zu können. Das Scheppern der Kugeln symbolisiert die irdische Disharmonie, quasi ein hohles und leeres Getöne im Gegensatz zum himmlischen Wohlklang. Tatsächlich bewegen die Narren – auch in anderen Städten – ihre Schellen vor allem, weil sie Spaß am Lärmen haben.

Wuescht und Butzesel

Den größten Kontrast zur edlen Hauptfigur des Narro stellen die tölpelhaften Gesellen ­Wuescht und Butzesel dar. Mit dem Begriff ­Wuescht bezeichnete man in der umliegenden Region Baar einen durch und durch anstößigen Menschen, verfressen, ordinär und anzügliche Lieder singend. Ein Grobian eben, ein Wüster. Dies machte die Figur offenbar auch bei den Villinger Narren beliebt: Der Wuescht trägt die Hose des Narro, allerdings in verwaschener und abgenutzter Form und dick mit Stroh ausgestopft.

Mit seinem behäbigen Gang sorgt er für viel Gelächter bei den Umstehenden. Seine alte, abgeschürfte Scheme trägt er anders als der Narro nicht als Vermummung, sondern hält sie seitlich vors Gesicht. Mit einem Brett auf dem Rücken, das eine zerlumpte Puppe schmückt, und einem alten Besen in der Hand zieht die Gruppe umher und bringt den einen oder anderen mit zotigen Sprüchen in Verlegenheit.

Allerdings sind die Villinger um ironische Kommentare nicht verlegen: „Zum Schluss kummet no de Scheenschte!“, sagen sie zu den gut gepolsterten Gestalten. Kinder bewerfen sie mit Schneebällen oder Tannenzapfen, um die Wueschte aus der Stadt zu treiben. Darüber hinaus spielen diese bei der Fastnachtsverabschiedung eine wichtige Rolle. Am Fasnetsdienstag nämlich.

Dann ziehen die Wueschte das Stroh aus ihrer Kleidung und verbrennen es. Symbolisch werden damit närrische Überschreitungen wie Ungehemmtheit und Völlerei vernichtet. Auf diese typischen Symbolfiguren können alle Sünden der vergangenen Tage abgeladen werden: die Schuld, zu viel getrunken und gegessen zu haben, dass das Portemonnaie total leer ist und überhaupt die Sitten locker waren.

All diese Gestalten versinnbildlichen jedoch nicht nur die Vergänglichkeit der Fastnacht, sondern auch die Endlichkeit allen Diesseitigen. Damit bewegen sich die Narren in einer sehr alten christlichen Tradition. Denn der Tod als Folge der menschlichen Narrheit, aber auch die Narrheit des Todes überhaupt, spielten bei der Fastnacht als Schwellenfest vor der erneuernden Fastenzeit stets eine wichtige Rolle.

Zurück zum Figurenensemble der Villinger Fasnet: Da wäre noch der im Jahr 1914 als Schreckgestalt oder Kobold eingeführte Butzesel zu nennen, der sich in jeder Hinsicht viel herausnimmt. Er symbolisiert die Allegorie der Fleischlichkeit. Passend zu ihrem Namen trägt die Figur einen Eselskopf aus Pappmaché. Er macht den Butzesel zum „törichten Narren“. Das Gewand, das Häs, besteht aus bunten Stoff­flicken, und um die Ohren trägt der Butzesel Ringe von Würsten.

Ritt auf dem Tannenbaum

Einerseits gelten Würste als typisches Auswurfgut der Narren, andererseits ergibt sich durchaus auch eine erotische Anspielung. Die Figur reitet auf einem Tannenbaum. Für Fleischeslust und Übermut soll sie damit stehen – zwei Todsünden. Die „Stachis“ im blauen Fuhrmannshemd versuchen daher, den Butz­esel mit lautem Peitschengeknalle in Zaum und das Publikum auf Dis­tanz zu halten. Kein einfaches Unterfangen, denn wenn sich die wilde Gestalt einmal losgerissen hat, ist sie nicht so schnell zu stoppen.

Ähnlich wie im württembergischen Rottweil reicht die Fasnet­tradition auch in Villingen weit zurück. Das ist für sich genommen schon etwas Besonderes, denn die Anzahl der Orte in der Region, die ihre fastnächtlichen Brauchformen und Figuren archivalisch über viele Generationen belegen können und deren Masken- und Hästraditionen bis in die Barockzeit zurückreichen, ist tatsächlich rar.

 — © Andreas Praefcke/CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)
Andreas Praefcke/CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)
Der Wuescht mit den ausgestopften Hosen hält seine Maske seitlich vors Gesicht.

Für Villingen lässt sich das bezeugen: Bereits in einem Ratsprotokoll von 1542 ist über Tanzveranstaltungen zur Villinger Fastnacht zu lesen, ebenso vom Heischen der Fasnetsküchlein und sogar, dass der Mummenschanz, also die Maskerade, mit Einbruch der Nacht beendet werden müsse. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, gegen Mitte des 17. Jahrhunderts, ist in den Ratsprotokollen explizit die Rede von „masceraden“, die sich seitdem fortgesetzt haben.

Vielfach finden sich in dieser Zeit Berichte zum Fastnachtsverlauf sowie Schilderungen zu Strafen für Villinger Narren, die allzu sehr über die Stränge geschlagen haben. Spätestens seit dem frühen 18. Jahrhundert finden sich auch wiederholt Hinweise auf die Figur des Villinger Narro. Und so ist es den Brauchträgern in Villingen zu verdanken, dass sich das närrische Regelwerk und die Figuren ihrer Fasnet über Generatio­nen entwickeln konnten und in ihrer Choreographie bis heute lebendig geblieben sind.

Volkskundliche Bedeutung

Entsprechend stolz schauen die Villinger auf die lange Tradition ihrer Fasnet. Deren Bedeutung möchte man auch dem Zuschauer übermitteln, und so gibt der Zunftmeister heutzutage beim „Maschgerelauf“ am Fasnetsmontag kurze Erklärungen zur volkskundlichen Bedeutung des fastnächtlichen Figurenensembles ab.

Zu sehen gibt es das närrische Ensemble übrigens nur direkt in Villingen. 1955 verließen die Villinger Narren nämlich die Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte – und erteilten damit auch der Teilnahme an auswärtigen Narrentreffen eine Absage. Ihre traditionelle Fasnet feiern sie seitdem nur in der eigenen Stadt.

Irene Krauß

 — © Archiv Irene Krauß
Archiv Irene Krauß
Die historische Darstellung zeigt, dass der Narro schon seit über 100 Jahren weitestgehend gleich gewandet ist.
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