500 Jahre Fürstenpredigt von Thomas Müntzer
Das Recht auf Selbstbestimmung

Der Reformator Thomas Müntzer (um 1489/90 bis 1525) stellte die mittelalterliche Ordnung radikal in Frage und ging weit über die Vorstellungen Martin Luthers hinaus. Seine Fürstenpredigt vor genau 500 Jahren markiert einen bedeutenden Moment in der europäischen Geistesgeschichte. Im Exklusiv-Interview blickt Ulrike Strerath-Bolz, die ein Buch über Müntzer verfasst hat, auf das Leben und Wirken des Theologen und Sozialrevolutionärs.
Frau Dr. Strerath-Bolz, welche Bedeutung kommt der Fürstenpredigt von Thomas Müntzer im Kontext der Reformation zu?
Die Bedeutung der Fürstenpredigt geht weit über den Kontext der Reformation hinaus. Diese Predigt, die Thomas Müntzer am 13. Juli 1524 vor einer Delegation des Kurfürsten in Allstedt hielt, war eine wahrhaft „flammende Rede“ und markiert bis heute einen Umbruch in der Geistesgeschichte.
Müntzer räumte darin mit der mittelalterlichen Vorstellung auf, der Mensch lebe in einer gottgegebenen Ordnung, in der er sich der weltlichen und geistlichen Obrigkeit bedingungslos zu unterwerfen habe, und diese Obrigkeit habe ihrerseits den göttlichen Auftrag, die Ordnung zu erhalten, notfalls mit Gewalt. Stattdessen sprach Müntzer von Selbstbestimmung und Widerstandsrecht – vom Recht jedes einzelnen Menschen, gegen Unrecht, Repression und Missstände aufzustehen. Damit dachte er Luthers „Freiheit eines Christenmenschen“ weiter.
Welche theologischen und politischen Ideen vertrat Thomas Müntzer?
Müntzer war stark von der Mystik beeinflusst. Für ihn spielten die persönliche Gottesbeziehung und das Wirken des heiligen Geistes im einzelnen Menschen die entscheidende Rolle. Daraus leiteten sich auch seine politischen Ideen ab. In seinen Augen hatte jeder Mensch ein Recht auf Selbstbestimmung und zum Widerstand gegen eine Obrigkeit, die dies nicht respektiert. Er kämpfte leidenschaftlich – am Ende auch unter Einsatz seines eigenen Lebens – dafür, die Menschen auf die Seite Gottes zu ziehen.
Wie unterscheidet sich Müntzers Ansatz zur Reformation von Martin Luthers?
Thomas Müntzer war zunächst stark von Luther beeinflusst. Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ inspirierte ihn zu seinen weitergehenden politischen Ideen. Hinzu kamen jedoch die starken mystischen Einflüsse aus Müntzers Zeit in Zwickau: der enge Kontakt zu den 72 Jüngern unter der Führung von Nikolaus Storch, die Einflüsse der Täuferbewegung und allgemein der Drang, die Reformation wesentlich radikaler und schneller voranzutreiben, als Luther und seine Gefährten dies taten.
Müntzer hatte, auch bedingt durch seine Endzeiterwartung, keinerlei Interesse an Kompromissen. So entstand während seiner Zeit in Allstedt eine ganz eigene reformatorische Strömung, die auch die Entwicklung einer eigenen deutschsprachigen Liturgie umfasste. Müntzer begann als Luthers Schüler, sah sich dann als gleichberechtigtes Gegenüber und schließlich als sein Widersacher. Er dachte Luthers Lehre weiter, grenzte sich dann zunehmend von ihr ab und verwarf sie schließlich ganz.

Wie sehr beeinflusste der Bauernkrieg Müntzers Positionen?
„Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann feind wird“ ist ein bekanntes Müntzer-Zitat. In der Fürstenpredigt lädt er die Fürsten geradezu flehentlich ein, sich den gesellschaftlichen Umwälzungen, die er mit den Bauernaufständen kommen sieht, anzuschließen: „Wo sie aber das nicht tun, so wird ihnen das Schwert genommen werden, denn sie bekennen ihn (Gott, Anm. d. Red.) also mit den Worten und leugnen ihn mit der Tat.“ Für Müntzer waren die Bauernaufstände Bestätigung seiner theologischen und politischen Ideen, vor allem auch seiner Endzeiterwartung.
Kann man ihn als radikalen Reformator bezeichnen?
Ja, das ist zweifellos zutreffend.
Wie sah die Reaktion der Fürsten und kirchlichen Autoritäten auf Müntzers Ideen aus?
Müntzer machte sich mit seinen radikalen Ideen zahlreiche Feinde. Er überschätzte seinen Einfluss, und so ist es nicht erstaunlich, dass es ihn nie lange an einem Ort hielt. Auch in Allstedt, wo er eine recht große Gemeinde um sich hatte scharen können und ein wenig zur Ruhe gekommen war, versagte man ihm im Sommer 1524 die Gefolgschaft. Anfang August musste er zunächst zu einem Verhör auf dem Schloss in Weimar erscheinen, danach flüchtete er nach Süddeutschland. Dort kam es zum ersten unmittelbaren Kontakt mit den aufständischen Bauern.
Welche Folgen hatte Müntzers Wirken auf die Entwicklung der reformatorischen Bewegung?
In der Fürstenpredigt waren auch einige massive Angriffe auf Martin Luther enthalten, der sich nach Müntzers Ansicht viel zu sehr auf dem Schutz seines Kurfürsten ausruhte und zu viele Kompromisse einging. Er bezeichnet ihn in der Predigt als „Bruder Mastschwein“ und „Bruder Sanftleben“.
Luthers Reaktion fiel heftig aus, nicht zuletzt aus der begründeten Sorge, man könne ihn mit den „Schwarmgeistern“ in einen Topf werfen. Nach Müntzers Tod 1525 und noch mehr nach dem Augsburger Reichstag 1530 setzte sich der Wittenberger Hauptstrom der Reformation durch. Die „Nebenflüsse“ versickerten oder wurden bekämpft.
Warum darf man Thomas Müntzer in Bezug auf das Verständnis der Reformation nicht ausklammern?
Kein Zweifel: Müntzer gehört zu den Verlierern der Reformationsgeschichte. Doch er war der erste, der biblisch begründet ein Widerstandsrecht des Menschen gegen die Obrigkeit postulierte, und er lehnte radikal jede staatliche Gewalt ab, die sich nicht in den Dienst von Gottes Gerechtigkeit stellte. Seine Idee einer „Reformation von unten“ hat sich nicht durchgesetzt, und doch wirkt sie weiter in modernen Strömungen wie der Befreiungstheologie. Dorothee Sölle hat ihr Konzept von „Mystik und Widerstand“ ausdrücklich auf ihn zurückgeführt.
Welche Geschichtsquellen stehen zur Verfügung, wenn man sich heute mit Müntzers Leben beschäftigen will?
Was sein Leben angeht, gibt es nur sehr wenige Quellen. Wir wissen nicht einmal, in welchem Jahr er geboren wurde. Über die Umstände seines Todes ist wesentlich mehr bekannt. Seine Schriften und Briefe sind erhalten und in mehreren Editionen veröffentlicht. Aus ihnen lässt sich einiges erschließen. Hinzu kommen die Streitschriften Luthers und einige Aussagen von Zeitgenossen.
Mit welchen Herausforderungen und Widerständen hatte Müntzer zu kämpfen?
Müntzer machte sich mit seinen radikalen Ideen, seiner Ungeduld und seiner Gewaltbereitschaft sehr viele Feinde. So blieb er nie lange an einem Ort, und er kam auch innerlich nie zur Ruhe, von seiner Zeit in Allstedt – wo er heiratete und eine Familie gründete – vielleicht abgesehen.
Welche Lehren lassen sich aus Thomas Müntzers Leitgedanken von Gottesstaat und sozialer Gerechtigkeit ziehen?
Müntzers fundamentalistische Ideen und seine bedenkenlose Haltung zur Gewalt haben dazu geführt, dass er hier und da in die Nähe des religiös begründeten Terrorismus unserer Zeit gerückt wurde. Doch wer das tut, macht es sich zu leicht und verkennt die historische Situation, in der Müntzer lebte und kämpfte. Die Lage der Bauern und der verarmten Stadtbevölkerung im 16. Jahrhundert war in der Tat verzweifelt. Es war an der Zeit, den Menschen zu sagen, dass die „Freiheit eines Christenmenschen“ auch die Freiheit der Armen einschließt. Und dass der Friede Gottes die irdische Gerechtigkeit einschließt.
Was bleibt, ist Müntzers ehrliches, drängendes Ringen um Wahrheit und Gerechtigkeit. Er glaubte an ein „Leben vor dem Tod“, und darin ist er bis heute aktuell – wo auch immer von Solidarität mit den Armen dieser Welt gesprochen wird. Wenn Christen sich heute für Menschenrechte und die Bewahrung der Schöpfung, gegen Ausbeutung und Diskriminierung oder für soziale Gerechtigkeit einsetzen, stehen sie damit – bei aller Wachsamkeit gegenüber Müntzers Irrwegen – auch in seiner Tradition.


Inwiefern hat Müntzers theologisches Erbe die spätere protestantische Theologie beeinflusst?
Das ist nicht geschehen. Wenn überhaupt, kann man Teile der späteren, vor allem der lutherischen Theologie als Abgrenzung von Müntzer sehen. Das volkskirchliche Konzept, das sich gegen seine fundamentalistischen Ideen durchgesetzt hat, war auch eine Reaktion auf Müntzers Theologie, die eine kleine Schar von „Auserwählten“ in die Nähe Gottes rückt und alle anderen als „Unkraut“ verachtet.
Auf der anderen Seite steht der Befund, dass die protestantische Theologie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine allzu enge Verbindung zur weltlichen Obrigkeit pflegte. Das hätte Müntzer in seiner Kritik bestätigt.
Wie erklärt es sich, dass ein Theologe, der die „Gottlosen“ ausrotten wollte, in der religionskritischen DDR zum Nationalhelden und Vorläufer des Sozialismus avancierte?
Mit der bürgerlichen Revolution 1848 und der Bauernbefreiung nahm die Müntzer-Rezeption eine ganz neue Richtung. Die marxistische Geschichtswissenschaft sah in ihm einen Vorläufer, einen früh Vollendeten, der vorgedacht hatte, wozu seine Zeit noch nicht reif gewesen war. Ein Großteil der Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert sah Müntzer denn auch ausschließlich als Märtyrer für die Sache der Bauern und Armen.
Sein tief verwurzelter Glaube und seine Verbindung zur Mystik wurden komplett ausgeblendet, als man ihn in eine Reihe mit Personen wie Che Guevara, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg stellte. Erich Honecker bezeichnete den „Revolutionär im Talar“ als einen vorbildhaften Kämpfer, „der zum Besten gehört, was unser Volk hervorgebracht hat“. Das ausgesprochen schöne Thomas-Müntzer-Denkmal in Stolberg im Harz, das 1989 anlässlich seines 500. Geburtstags aufgestellt wurde, war ein später Gruß der untergehenden DDR.
Was würde Thomas Müntzer den Menschen des 21. Jahrhunderts sagen wollen?
Darüber lässt sich trefflich spekulieren. Doch wenn wir bei den Fakten bleiben wollen, sollten wir einen Blick auf seine letzten Tage werfen. Denn es gibt so etwas wie ein Vermächtnis: Am 17. Mai 1525 schrieb er seinen letzten Brief an die Menschen in Mühlhausen, einer Hochburg der Aufständischen.
Nach all den wüsten Aufrufen der vergangenen Wochen, in denen er sich selbst als „Knecht Gottes wider die Gottlosen“, als Mann „mit dem Schwerte Gideons“ und als „Hammer Gottes“ bezeichnet hatte, nach all den Rechtfertigungen von Gewalt und Aufstand im Dienste Gottes, beschwor er in diesem Vermächtnis die Menschen, das Blutvergießen zu beenden. Diesen Brief unterzeichnete er ganz bescheiden einfach mit seinem Namen.
Interview: Andreas Raffeiner
Information
Von Ulrike Strerath-Bolz ist im Wichern-Verlag das Buch „Thomas Müntzer. Warum der Mystiker die Bauern in den Krieg führte“ erschienen (ISBN: 978-3-88981-375-6). Es kostet 14,95 Euro. Müntzers Fürstenpredigt zum Nachlesen finden Sie im Internet: www.mlwerke.de/mu/mu_001.htm.