Mehr Mitgefühl gefordert
Bundestag begeht 75-jähriges Jubliäum mit nachdenklichen Worten

Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) hat die Politik dazu aufgerufen, sich wieder mehr um die Gefühle der Menschen in Deutschland zu kümmern. „Politik sollte das Bedürfnis der Menschen ernster nehmen, sich der Verzweiflung, der Einsamkeit in unserer Gesellschaft mehr widmen und mehr Mitgefühl zeigen“, sagte Baum am Dienstag bei einer Feierstunde im Bundestag zum 75. Jahrestag der ersten Sitzung des Parlaments am 7. September 1949.
Er rief dazu auf, zu erklären, dass nicht alle Probleme auf einmal lösbar seien. Zugleich müsse der Wunsch der Menschen respektiert werden, mitwirken zu können. Nötig sei, wieder eine Verständigungsgemeinschaft aufzubauen. Er kenne keinen Ersatz für eine repräsentative Demokratie. Die Deutschen könnten Demokratie und müssten jetzt beweisen, dass sie die Demokratie auch verteidigen können.
Deutschland solle auch die Verteidiger der Menschenrechte weltweit unterstützen. „Wir sind frei geboren, um frei zu sein“, sagte Baum. Die Deutschen hätten das Glück, in einer freien Gesellschaft in Frieden und Wohlstand zu leben, und müssten sich denen widmen, die das nicht könnten.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sagte, die Politik sei gefordert, den Zweifeln an der Demokratie zu begegnen, indem sie die konkreten Alltagsprobleme der Menschen angehe: „Ohne Erwartungen zu wecken, die wir nicht erfüllen können. Ohne schnelle Scheinlösungen. Ohne den Irrglauben, dass wir unsere Maßnahmen nur einfach besser erklären müssen.“ Es gehe auch darum, politisches Engagement wieder attraktiver zu machen und neue Formen der Mitwirkung zu finden, um die Kluft zwischen den Menschen und ihren Abgeordneten zu schließen.
Der Wunsch nach mehr Beteiligung solle als eine wichtige Kraftquelle für die Demokratie genutzt werden, sagte Bas. „Unzufriedenheit muss für uns Ansporn sein.“ Es gelte, Kritik ernst zu nehmen und sie als Motor für Veränderung und Fortschritt zu begreifen. In der Demokratie gehe es stets um einen fairen Ausgleich von unterschiedlichen Interessen. Daher ließen sich nie alle Erwartungen und Ansprüche erfüllen. „Umso wichtiger ist es, dass Kompromisse nachvollziehbar und inhaltlich gut begründet sind.“
Die Historikerin Christina Morina sagte, die Demokratie brauche „Stimmen aus der ganzen Breite und auf allen Ebenen der Gesellschaft, die für die repräsentative Demokratie werben, die sie aus Überzeugung zu ihrer Sache machen“. Es sei nötig, sich aus der Logik des populistischen und extremistischen Antiparlamentarismus zu befreien – etwa, wenn jemand die Migration zur Mutter aller Probleme erkläre, Bürgernähe zum Maß aller Politik stilisiere oder Forderungen mit Verweis auf „die Leute“ zu begründen versuche. Es gelte, dieser Logik die Stärken des Parlamentarismus und der Parteiendemokratie stärker entgegenzustellen.
Außerdem sei es nötig, von der repräsentativen Demokratie nicht nur im Krisenmodus zu sprechen. Die parlamentarische Demokratie lebe von der Kunst der Überzeugung, vom Gewicht des besseren Arguments, sagte Morina. Sie sprach sich klar gegen mehr direktdemokratische Elemente wie Volksabstimmungen aus, mit denen etwa vom Parlament verabschiedete Gesetze gekippt werden könnten.
KNA