Vor 300 Jahren: Premiere für Bachs Kantate
„Aus tiefer Not schrei ich zu dir“

Vor 300 Jahren wurde in Leipzig Johann Sebastian Bachs Kirchenkantate „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ uraufgeführt. Sie basiert auf Martin Luthers Nachdichtung des Psalms 130. Organist und Dirigent Rudolf Lutz, Leiter der J.-S.-Bach-Stiftung in St. Gallen, spricht im Interview über die tiefgründige Chorkantate, ihre Struktur, die Thematik und die Bach’sche Symbolik und Komplexität.
Herr Lutz, wann entstand „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“?
Diese Kantate wurde am 29. Oktober 1724 erstmals aufgeführt, im zweiten Leipziger Amtsjahr von Thomaskantor Johann Sebastian Bach. Für den 21. Sonntag nach Trinitatis wählte Bach den Lutherchoral „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ als Grundlage.
Wie ist die Kantate strukturiert?
Bach verwendete die erste und letzte Strophe des Chorals für den Eröffnungschor und den Schlusschoral. Die übrigen Strophen wurden von unbekannten Librettisten in Rezitativ- und Arientexte umgewandelt.
Im Bach-Werke-Verzeichnis steht die Kantate an 38. Stelle. Was thematisiert BWV 38?
Die Kantate spiegelt den verzweifelten Ruf eines Menschen in Not wider, der sich auf die biblischen Verheißungen von Gnade und Vergebung besinnt und Trost im Glauben findet.
Warum finden sich immer wieder Begriffe wie Glaube und Zweifel in den Kantatentexten?
Diese Begriffe adressieren universelle Fragen der menschlichen Existenz. Bachs Musik bietet immer wieder neue, beeindruckende Lösungen und Perspektiven zu diesen Themen.
Könnten Sie etwas zur musikalischen Gestaltung des ersten Satzes sagen?
Der erste Satz ist als Chormotette komponiert und verwendet den Choral als „Cantus Firmus“ in allen vier Stimmen. Die Klänge werden durch Posaunen und Oboen verstärkt, was die historische Tiefe der Musik unterstreicht.
Welche Rolle spielen die periskopischen Texte in der Kantate?
Für den 21. Sonntag nach Trinitatis bezieht sich der Text auf die Heilung eines Kranken, was den Hilfeschrei und die Rettung durch Jesus reflektiert.


Wie zeigt sich Bachs musikalische Symbolik in dieser Kantate?
Die komplexe Harmonik und Synkopen im Mittelteil der Tenorarie repräsentieren das Leiden, während hoffnungsvolle, klanghelle Töne Trost spenden und zum Vertrauen in Gottes Güte aufrufen.
Wie empfinden Sie die Komplexität von Bachs Musik?
Die Musiksprache Bachs kann beim ersten Hören herausfordernd sein, offenbart aber bei näherem Beschäftigen tiefere emotionale und spirituelle Dimensionen. Sie ist einzigartig, durchsichtig, komplex, vielschichtig, beim ersten Mal vielleicht auch „verwirrlich“ zu hören. Je mehr man sich mit Bach beschäftigt, umso eindrücklicher und tiefgehender wird seine Musik empfunden. Sie ist auch von den Worten tief durchdrungen. Das ist eine Erfahrung vieler Menschen, die sich mit Bach auseinandersetzen.
Eine persönliche Beurteilung…
Man spricht oft von der Großartigkeit der Bach’schen Musik und der Mittelmäßigkeit der Libretti, gar von geschmacklosen, barocken Auswüchsen. Ich bin nach vielen Jahren der Beschäftigung mit Bach’schen Kantaten immer intensiver den versteckten Botschaften und Bibelbezügen der Libretti auf die Spur gekommen – Botschaften, Aussagen, Emotionen, welche die Voraussetzung der Bach’schen Musik darstellen. Ein richtiges Universum!
Interview: Andreas Raffeiner