Erinnerung an Christi Passion
Auf Procida findet seit 400 Jahren Italiens berühmteste Karfreitagsprozession statt

Millionen Touristen zieht es Jahr für Jahr auf die Insel Ischia im Golf von Neapel. Vom nahen Capri fahren einem bekannten Schlager zufolge die Fischer „mit ihren Booten aufs Meer hinaus“. Aber Procida? Nur wenige Touristen verschlägt es auf das kleine, dem Festland vorgelagerte Eiland, das kaum mehr als zwei Kilometer misst. Dabei ist Procida Heimat der wohl berühmtesten Karfreitagsprozession ganz Italiens.
Schon die römische Schriftstellerin Elsa Morante (1912 bis 1985) sagte es in ihrem vielfach übersetzten Roman „Arturos Insel“ (1957) in aller Deutlichkeit: Die Inseln des Archipels im Golf von Neapel sind alle schön – aber auf dem armen und verschlossen wirkenden Eiland von Procida steigen Fremde nur zufällig aus dem Schiff, das sie in Neapel oder Pozzuoli betreten haben. Die meisten fahren weiter nach Ischia, wo heiße Quellen sprudeln, oder steuern Capri an, wo „die rote Sonne im Meer versinkt“.
Einmal im Jahr aber zieht Procida die Aufmerksamkeit auf sich: am Karfreitag. Auf dem Eiland findet der berühmteste Trauerzug auf italienischem Boden statt: „La processione dei misteri“, wahlweise auch als „Corteo dei misteri“ bezeichnet, ist seit 1627 belegt. Die „misteri“ sind dabei gar nicht so geheimnisvoll, wie ihr Name vermuten lässt. Man bezeichnet damit meist aus Holz gezimmerte Standbilder, die vorwiegend Ereignissen aus der Bibel ein Gesicht geben, vereinzelt auch aktuellen gesellschaftlichen Themen wie Rauschgiftkonsum oder organisierter Kriminalität.

Nahezu alle Einwohner
An dem Buß- und Bittgang sind nahezu alle rund 10 000 Einwohner der Insel in irgendeiner Weise beteiligt. Während der Corona-Pandemie musste die Prozession zwei Mal abgesagt werden. Geistliche und Politiker brachten ihr Bedauern mehr oder weniger herzzerreißend zum Ausdruck. Die Schiffe vom Festland blieben noch leerer als sonst außerhalb der Kartage, die Straßen der Insel still und die Fenster und Geschäfte geschlossen.
Nur die Zitronenbäume verbreiteten weiterhin einen Hauch der unvergleichbar duftigen Stimmung, die sonst im Frühling auf dem gerade vier Quadratkilometer großen Flecken Vulkanerde in einer der schönsten Küstenbuchten des Tyrrhenischen Meeres herrscht. Procida ist Teil des Archipels der Phlegräischen Inseln, die auch Ischia und die winzigen Eilande Castello Aragonese, Vivara und Nisida umfassen und allesamt vulkanischen Ursprungs sind.
Seit drei Jahren kann die Prozession wieder regulär ablaufen. Die Feierlichkeiten beginnen stets schon in der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag. Die meist jungen procidanischen Künstler, die die „misteri“ in den zurückliegenden Wochen und Monaten gezimmert oder restauriert haben, bringen sich am Westhang der Terra Murata in Stellung. Dort, auf der höchsten Erhebung der Insel, die eine Festung und eine Kirche krönen, legen sie letzte Hand an die Schmuckstücke und verzieren sie mit Nektar und Ambrosia.
Kilometerlanger Trauerzug
Die hölzernen Transportgestelle, unter deren Last sie sich den ganzen Vormittag lang zu ducken haben werden, sind bis zu 15 Meter lang, bis zu fünf Meter hoch und mit bis zu zehn Statuen besetzt. Kurz nach sieben Uhr setzen sie sich in Bewegung. Rund vier Stunden schiebt sich der Umzug mit zahllosen Unterbrechungen und Ruhepausen durch die Gassen der östlichen Inselhälfte. Geistliche und Politiker schreiten nebeneinander her. Ohne Abschlusszeremonie verliert sich der kilometerlange Trauerzug dann bei der Chiesa di Santa Maria della Pietà an der Marina Grande.
40 bis 60 „misteri“ werden geschultert oder mit Hilfe von um den Oberkörper geschlungenen Seilen angehoben und geschleppt. Träger mit langjähriger Erfahrung geben den Ton an. Jedes Mal, wenn es wieder weitergehen soll, rufen sie: „Uno, due, tre – alto.“ Das Gewicht der „misteri“ ist enorm. Jeweils zehn bis 15 Mann schinden sich unter der Last einer Plattform. Alle gehören der „Congrega dei Turchini“ an, einer im 15. Jahrhundert gegründeten Laienorganisation, und sind in weiße Gewänder und hellblaue Kapuzen gehüllt.
Dazwischen reihen sich Einzelgänger mit Fahnen und Stelen und viele junge Väter ein – die Mütter warten am Straßenrand. Die jungen Männer tragen den in schwarze Kutten gehüllten Nachwuchs auf den Armen. Die Kinder selbst nehmen die Veranstaltung gelassen: Die einen blinzeln und lächeln die am Straßenrand ausharrenden Zuschauer an, andere legen den Kopf an den Hals des Vaters und schlafen tief und fest.
Am Ende folgen drei große Kreuze, die nur von Muskelmännern gestemmt und getragen werden können, danach die in Schwarz gehüllte Figur der trauernden Madonna und schließlich eine Skulptur des liegenden, aus der Brust blutenden und von einem dunklen Schleier bedeckten toten Gottessohns. Das sonst in einer Seitenkapelle der Chiesa di Terra Murata frei zugängliche spätbarocke Kunstwerk ist landesweit bekannt. Geschaffen hat es im 18. Jahrhundert Carmine Lantriceni.
Fanfare und Trauerlied
Den unüberhörbaren Abschluss der Prozession bildet traditionell eine Kapelle mit etwa 40 überwiegend jungen procidanischen Musikern und ihrem langjährigen Dirigenten, dem Saxofonisten Francesco Trio. Das Ensemble hat sieben Stücke im Repertoire – von der 50 Sekunden kurzen Fanfare mit Trompete und Trommel bis zur fast zehn Minuten langen hochemotionalen Kadenz „Ultimo giorno“. Das Trauerlied „Una lagrima sulla tomba di mia madre“ drückt vielen Zuhörern eine Träne aus den Augen.


Die Stücke werden im Verlauf der Prozession drei bis vier Mal wiederholt – unabhängig davon, wie rasch sie vorankommt. So mancher bis dahin passive Betrachter verlässt schließlich seinen Platz am Straßenrand und schließt sich dem Umzug am Ende noch an, um die Stücke mehrmals hören zu können und sich davon ein ums andere Mal innerlich anrühren zu lassen.
Wer nach dem offiziellen Ende der Prozession zusammen mit den inzwischen wieder in ziviler Kleidung gewandeten Lastenträgern und den anderen Akteuren vom Hafen zur Festung aufsteigt, kann dort oben noch Augen- und Ohrenzeuge einer viertelstündigen Zugabe der Kapelle werden. Nach dem pietätvoll leisen Applaus der treuen Zuhörer werden den Musikanten in einer Art Freiluftbar Cola und Cornetti angeboten.
Kein Touristenspektakel
Die Karfreitagsprozession von Procida ist trotz ihres Nimbus nie zu einem Touristenspektakel verkommen. Die Zahl der ausländischen Besucher hält sich seit vielen Jahren in Grenzen. Wenn man unter den Zuschauern am Straßenrand steht, hört man für italienische Verhältnisse auffallend wenige fremdsprachige Stimmen – auch wenn die Ohren gespitzt werden. Zum anderen sind die meisten Besucher Tagesgäste. Nur wenige reisen am Gründonnerstag oder früher an, um bis Ostersonntag oder länger zu bleiben.
Bei den Einheimischen ist das anders. Viele Procidaner haben ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen, um auf dem Festland zu leben und zu arbeiten. Zu Karfreitag aber zieht es viele von ihnen zurück auf die „Isola“, die ihnen Buße abverlangt und gleichzeitig Freude verspricht. Die Prozession ist für sie der freudige Anlass, ihren Glauben in unverwechselbarer Weise zu leben und sichtbar zu machen – und die Verbindung zu Familie und Heimat zu hüten und zu hegen.
Werner Golder