Umstrittene „Superzeugin“ ist tot
1983 wurde die 15-jährige Vatikan-Bürgerin Emanuela Orlandi entführt: Was wusste Sabrina Minardi?

Mit ihren Aussagen brachte Sabrina Minardi die Ermittlungen im Fall der am 22. Juni 1983 spurlos verschwundenen Vatikan-Bürgerin Emanuela Orlandi wieder ins Rollen. Jetzt ist Minardi, die Ex-Geliebte des 1990 ermordeten Mafia-Bosses Enrico De Pedis, im Alter von 65 Jahren gestorben.
Es ist ein schwüler Juniabend 1983, als die damals 15-jährige Emanuela Orlandi, Tochter eines Bediensteten von Papst Johannes Paul II., nach dem Musikunterricht in der Altstadt Roms nicht nach Hause zurückkehrt. Bis heute konnte der Fall, der im Laufe der Jahre mal mit Ali Ağcas Papstattentat am 13. Mai 1981, mal mit der Mafia in Verbindung gebracht wurde, nicht aufgeklärt werden.
Eine anonyme Botschaft
2005 kam Bewegung in den Fall. Ein anonymer Anrufer hinterließ beim italienischen Fernsehen eine Botschaft: „Um eine Lösung für den Fall Emanuela Orlandi zu finden, sehen Sie nach, wer in der Gruft der Basilika Sant’Apollinare begraben ist und welchen Gefallen Renatino Kardinal Poletti getan hat.“ Die Nachricht wird in der Sendung „Chi l’ha visto?“, einem Pendant zu „Aktenzeichen XY ... ungelöst“, veröffentlicht und bringt neue Ermittlungen in Gang.
„Renatino“ war der Beiname des mächtigsten Gangsters von Rom, Enrico De Pedis. Dessen Ex-Geliebte Minardi sorgte 2006 im Interview mit der Journalistin Raffaela Notariale für Aufsehen: Minardi behauptete, an der Entführung Emanuela Orlandis beteiligt gewesen zu sein, und berichtete von Emanuelas Gefangenschaft und ihrer Übergabe an einen Priester, der an der Tankstelle des Vatikans in einem schwarzen Mercedes mit Vatikan-Kennzeichen auf sie gewartet habe.
Die Ermittlungen führten 2012 zur Öffnung des Grabs in der Basilia Sant’Apollinare, in der nach Kirchenrecht nur Bischöfe und Kardinäle beerdigt werden dürfen. Ein solcher Kirchenmann war Enrico De Pedis, dessen Leichnam dort in einem Marmorsarg ruhte, beileibe nicht. In den 1980er Jahren terrorisierte der Boss des Magliana-Clans mit Erpressung, Entführung und Mord ganz Rom.

1990 wurde der damals 35-jährige Bandenchef in Rom auf offener Straße erschossen – von ehemaligen Komplizen. De Pedis’ Überführung in die Kirche hat laut „Tagesspiegel“ Kardinal Ugo Poletti, der Chef der italienischen Bischofskonferenz, genehmigt. Warum er dies tat, was also möglicherweise der „Gefallen“ war, den der anonyme Anrufer erwähnte, bleibt ungewiss.
Vatikanbank erpresst?
Immer wieder wurde in der Vergangenheit die Vatikanbank IOR mit Mafiageldern in Verbindung gebracht. Wurde Orlandi von der Banda della Magliana entführt, um die Bank zu erpressen, das Geld zurückzugeben, das De Pedis und seine Komplizen dort investiert hatten? Und fand De Pedis in der Krypta der Basilika Sant’Apollinare seine letzte Ruhestätte, weil er jenes Geld schließlich abgeschrieben hat? So zumindest lautet eine der Theorien.
Sicher ist nur, was in der Basilika nicht gefunden wurde: die sterblichen Überreste der vermissten Emanuela Orlandi. Über deren vermeintliches Schicksal äußerte sich Sabrina Minardi gegenüber den Ermittlungsbehörden: Ihr Partner De Pedis habe Emanuela nicht nur entführt, sondern auch getötet und anschließend in einem Betonmischer am Stadtrand Roms entsorgt. Ihre Aussagen brachten Minardi die Bezeichnung „Superzeugin“ ein. Belege dafür, dass sie die Wahrheit sagte, gibt es indes keine. Alle Ermittlungen liefen ins Leere.
Aufmerksamkeit über Italiens Grenzen hinaus erlangte der Fall Orlandi 2022 durch die vierteilige Netflix-Miniserie „Vatican Girl“, in der verschiedene mögliche Szenarien des Falls aufgezeigt werden. Auch „Superzeugin“ Sabrina Minardi wurde für die Produktion interviewt. Die Ausstrahlung der Dokumentation führte zur Wiederaufnahme des Orlandi-Falls durch die italienische Justiz. Seit 2023 ermittelt auch die Staatsanwaltschaft des Vatikans im Fall Orlandi.
Widersprüchliche Aussage
Minardis Aussagen gelten aufgrund widersprüchlicher Aspekte als umstritten und spielen in den Ermittlungen keine Rolle mehr. Allerdings wurde sie auch nie offiziell von der Untersuchungskommission zum Verschwinden des Mädchens angehört, obwohl viele Menschen das gefordert hatten, berichtet die italienische Internet-Zeitung „Secolo d’Italia“.
Nun ist Sabrina Minardi tot. Sie starb in der Provinz Bologna. Journalistin Raffaela Notariale, die mit Minardi das Buch „La Supertestimone del Caso Orlandi“ (Die Superzeugin des Orlandi-Falls) schrieb, gab ihren Tod bekannt. Im Internet schrieb sie, Minardi sei im Schlaf gestorben. „Sie starb so friedlich wie jemand, der weiß, dass er die Wahrheit gesagt hat.“
Notariale ist nach wie vor von Minardis Aufrichtigkeit überzeigt. Nicht eine, sondern viele Einsichten habe sie in die Ermittlungen eingebracht. „Doch diejenigen, die sie hätten aufgreifen und vertiefen können und sollen, wollten dies nicht tun. Nicht zuletzt die Untersuchungskommission zum Fall Emanuela Orlandi.“
Markus Vögele