Ein rhetorischer Drahtseilakt
19. Dezember 1989: Zum 35. Mal jährt sich die historische Rede Helmut Kohls vor der Dresdner Frauenkirche

Viele Ostdeutsche erinnern sich noch gut an Helmut Kohls historische Rede am 19. Dezember 1989 vor den Trümmern der Frauenkirche in Dresden. Der Bundeskanzler bezeichnete sie später als "Schlüsselerlebnis" auf dem Weg zur deutschen Einheit, gleichzeitig war der Auftritt ein Balanceakt. Kohl wusste, dass er die Hoffnungen der Zuhörer nicht enttäuschen durfte, aber auch die Alliierten nicht brüskieren durfte. Der Historiker und Autor Michael Gehler blickt im Interview auf das historische Ereignis.
Herr Professor Gehler, wie sind Inhalt und Stellenwert dieser Rede in Dresden für Bundeskanzler Helmut Kohl selbst bewerten?
Es war ein besonderer Tag für ihn. Nur mit Sondergenehmigung der Alliierten konnte Kohl mit einer Maschine der deutschen Luftwaffe nach Dresden fliegen. Die Stimmung während des Flugs war ernst. Kohl mahnte seine Begleitung Norbert Blum, Dorothee Wilms, Johnny Klein, Rudolf Seiters und Horst Teltschik zu bedachtsamem und diszipliniertem Auftreten. Überschäumende Euphorie oder gar ein überschießender Nationalismus sollten tunlichst vermieden werden. Für Kohl war es ein rhetorischer Drahtseilakt, die schwierigste und gleichzeitig die gelungenste Rede seiner Kanzlerzeit.
Warum war diese Rede gerade außenpolitisch eine schwierige Aufgabe für Kohl?
Es gibt eine Vorgeschichte zur Dresdner Rede vom 19. Dezember. Drei Wochen zuvor hatte Kohl ein Zehn-Punkte-Programm am 28. November 1989 im Bundestag vorgestellt, indem er eine schrittweise Entwicklung zu den deutsch-deutschen Beziehungen skizzierte. Er hatte davon nur Washington zeitversetzt informiert, aber keine anderen Partner, nicht einmal den FDP-Koaltionspartner unter Genscher.
Nach der Rede gab es international Ablehnung und Kritik. Für Premierministerin Thatcher stand die deutsche Frage nicht auf der Tagesordnung, Italiens Ministerpräsident Andreotti ging weiter von der Existenz zweier deutscher Staaten aus, Generalsekretär Gorbatschow nannte Kohls Rede ein "Diktat", sein Außenminister Schewardnadse verglich das Agieren Kohls sogar mit einem Vorgehen wie Hitler, Frankreichs Staatspräsident Mitterrand war schwer irritiert, nicht konsultiert worden zu sein, traf sich mit Gorbatschow zur Beratung in Kiew am 6. Dezember und überlegte mit ihm gemeinsam einen Auftritt in der DDR. Der niederländische Regierungschef Ruud Lubbers reagierte abweisend. Seine Amtskollegen aus Belgien mit Martens und Luxemburg mit Santer sowie Österreichs Außenminister Mock und Spaniens Premier Gonzáles stimmten zwar für Kohls Rede, sie waren aber in der Minderzahl. Sonst herrschte großes Misstrauen. Kohl war also vor seiner Dresdener Rede mehr als gewarnt, angemessen, bedachtsam, maßvoll und vorsichtig zu reden, zumal viele ausländische Journalisten zugegen waren.
Wie reagierten die Vier Mächte auf die Dresdener Rede?
Nach Dresden waren die Reaktionen freundlicher und verständnisvoller. Kohls Rede wirkte nun beruhigend auf die Nachbarn und die Partner. In Moskau herrschte Erleichterung über das moderate Auftreten des Bundeskanzlers. Noch nicht frei von Misstrauen und Zweifel war Mitterrand, der am 20. Dezember am Tag der Abreise Kohls aus Dresden den Staatsratsvorsitzenden Gerlach und Ministerpräsident Hans Modrow in Berlin besuchte, wo ein Handelsvertrag zwischen Frankreich und der DDR vereinbart wurde. Mitterrand begab sich auch nach Leipzig, um die Stimmungslage in der Stadt der Montagsdemonstrationen zu erkunden. Vor Studierenden der Karl-Marx-Universität hielt er einen Vortrag und lehrte sie deutsche Geschichte. Für Mitterrand war die Entwicklung zu schnell gegangen, insofern Kohls kalmierende und dennoch Zuversicht vermittelnde Rede von Bedeutung für die weitere Entwicklung, d.h. die Regelung der deutschen-deutschen Beziehungen in ruhigen Bahnen verlaufen zu lassen.

Wie empfand Hans Modrow das Geschehen vor der Frauenkirche? Sie haben ihn ja dazu im Rahmen Ihrer Forschungen auch befragt.
Modrow hielt noch unverbrüchlich an der Existenz der DDR und einer Vertragsgemeinschaft beider Staaten fest, die auch Kohl bereits in seiner Bundestagsrede aufgegriffen hatte und in der Dresdener Rede zitierte. Modrow spielte im Gespräch das Ereignis herunter. Beim gemeinsamen Eintreffen in Dresden vor dem Hotel warteten seiner Erinnerung nach rund zweitausend Menschen. Die einen klatschten für Kohl, die anderen applaudierten Modrow. Das Publikum war für ihn erkennbar geteilt. Auf dem Platz vor dem Mahnmal der Frauenkirche wehte Modrows Erinnerung nach ein Meer von grün-weißen Sachsen- und schwarz-rot-goldenen Fahnen ohne DDR-Symbol. Er fragte sich, woher diese vielen Flaggen kamen. Seine Antwort: Im Konsum und im Centrum-Warenhaus jedenfalls wurden sie nicht angeboten. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass von CDU-Seite etwas nachgeholfen wurde, was wohl zutrifft.
Nicht ohne Bitterkeit hielt Modrow wortwörtlich fest: "Die vor der Frauenkirche versammelten Sachsen kriegten sich nicht ein, sie warfen sich dem Kanzler an den Hals und zu Füßen, beides gleichzeitig. Ihm gefiel es sichtlich. Er spürte, wie er später den Mantel der Geschichte am Zipfel festhielt. Dresden war für Kohl laut Modrow der Rubikon, dahinter gab es für ihn kein Zurück mehr. Es ging nur nach vorn, und das hieß für Kohl: deutsche Einheit."
Meine Interpretation: mit der Rede vor der Frauenkirche stand Modrow zunehmend in Kohls Schatten. Die Mehrheit wollte an diesem Tag nicht ihn, sondern den Bundeskanzler hören. Der Glaube am Fortbestand der DDR verflüchtete sich minütlich. Die Rufe und Sprechhöre lauteten "Einheit, Einheit", "Helmut Kohl - das tut wohl", "Deutschland einig Vaterland".
Wenn man die Dresden-Rede historisch einordnet: War das ein Wendepunkt in der Entwicklung?
Wendepunkt ist zu viel gesagt. Es war ein richtungsweisendes Ereignis, dass den Ostdeutschen Hoffnung, Mut und Zuversicht vermittelte und so gesehen ein Beschleuniger für all jene war, die den Glauben an eine geeinte deutsche Nation noch nicht aufgegeben hatten und die Mehrheit der Zuhörerschaft mit Erleichterung und Freude erfüllte. Gesungen wurde am Ende "So ein Tag, so wunderschön wie heute" nachdem Kohl mit "Gott segne unser deutsches Vaterland" geendet hatte.
Wäre die deutsche Geschichte anders verlaufen, hätte Kohl vor 35 Jahren nicht in Dresden gesprochen?
Das lässt sich am Inhalt der Rede beantworten, wenn man dabei bedenkt, was geschehen wäre, hätte Kohl nicht gesprochen. Sie enthielt wegweisende Botschaften für seine "Landsleute", wie er sie ansprach. Sie fand zum richtigen Zeitpunkt statt und hatte eine doppelte Signalwirkung: erstens die Zusage von Unterstützung für Reformen zur Demokratisierung der DDR; zweitens drückte sie den persönlichen Willen des Bundeskanzlers zur deutschen Einigung aus. Die Rede demonstrierte also Solidarität mit den Ostdeutschen und zeigte v.a. einen Weg auf, der zwar - so Kohl - schwierig, aber ein guter Weg sein würde. Er artikulierte einerseits Besonnenheit, andererseits auch Optimismus im Sinne von Max Weber „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“.
All diese Botschaften und Zielvorgaben hätten bei einem Ausbleiben einer solchen historischen Rede gefehlt. Rückblickend kann man sagen, dass es eine verpasste Gelegenheit gewesen wäre, die erwartungsfrohen Ostdeutschen an diesem Tag alleine zu lassen, was wohl zu Ratlosigkeit und noch mehr Verunsicherung geführt hätte. Kohl hat als studierter Historiker gewusst, - um mit Modrows Worten zu reden, dass jetzt an diesem Tag der Mantel der Geschichte zu ergreifen war, bevor er vorbeirauscht.
Interview: Andreas Raffeiner